Montag, 6. Juli 2020

Wolfgang Kemp wütet gegen academia.edu


[tatsächlich veröffentlicht am 23.1.2020]

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Januar 2020 (Seite „Geisteswissenschaften“) hat der renommierte Kunsthistoriker Wolfgang Kemp einen Artikel über die Website academia.edu publiziert, der vom ersten bis zum letzten Satz von Ironie und Spott geleitet ist. Der Artikel bezieht sich explizit  auf eine bestimmte Form von Publikationen, Papers „printed on own demand“. Gemeint sind damit Beiträge, die, salopp gesprochen, nur Aufgüsse von schon Bekanntem, gerne auch von selbst Geschriebenem sind, die also ohne eigene Datenerhebung und natürlich erst recht ohne eigene Gedanken auskämen: „Es geht um zur Gänze computergenerierte Forschung: recherchiert und geschrieben auf dem Rechner …“ Der Anteil solcher letztlich inhaltsloser Meta-Aufsätze – „das handelsübliche academia-Paper fällt ziemlich konform aus“ – ist in den Geisteswissenschaften wohl doch weniger groß, als Kemp suggeriert. Tatsächlich nennt er als Fach, das auf diesem unguten Feld besonders produktiv sei, die Sozialpsychologie. Um den Umfang dieser Scheinwissenschaft anzudeuten, schreibt Kemp, „man rechnet pro Jahr derzeit mit 1,8 Millionen Papers, davon grob überschlagen 400 000 in sogenannten Junk Journals publiziert“. Zu der erstgenannten Zahl, die sich offenbar auf den Bereich der Naturwissenschaften bezieht, kann man im Netz vage Nachweise finden. Und weiter: „Academia.edu ist für gewiefte Berufungskommissionen, was Instagram, was Whatsapp für den Personalchef sind, wenn er sich über die Bewerbungen auf eine Nachwuchsstelle beugt.“ Das schießt eindeutig über das Ziel hinaus. Einmal waren in Berufungskommissionen, wenn es um den wissenschaftlichen output ging, schon vor der Etablierung von Social Media mitunter Erbsenzähler am Werk. Zum anderen können auch Personalchefs, soweit sie nicht besondere Hackerqualitäten besitzen, die private Korrespondenz auf Whatsapp nicht mitlesen.
Der Bamberger Reiter (Wikimedia Commons)
Der zweite Teil des Zeitungsartikels widmet sich einem einzelnen Aufsatz, nun aus Kemps Fachgebiet, über die Interpretation des Bamberger Reiters. Der Name des Autors (der „Person“) wird nicht genannt, doch funktioniert die Anonymisierung nach dem Prinzip “For the sake of privacy let's call her Lisa S... No that's too obvious, let's say L. Simpson”. Der schon vor einigen Jahren erschienene Aufsatz von Assaf Pinkus ist so gut oder so schlecht wie viele Beiträge mit vergleichbarem Ansatz: Der Reiter lasse unterschiedliche Assoziationen zu und sei schon von den Zeitgenossen sehr unterschiedlich wahrgenommen worden. Um ein „handelsübliches academia-Paper“ handelt es sich allerdings gerade nicht, denn der Aufsatz ist in einer Zeitschrift mit double-blind peer review erschienen. Am Ende muss man sich fragen, was der Impuls für Kemps Philippika war. Wollte er seinem Ärger über Aufsätze ohne eine (nach seinem Urteil) originäre Forschungsleistung freien Lauf lassen und hat, statt eben das auszusprechen, die Plattform attackiert, die die Schaffung dieser Art von Publikationen angeblich besonders fördert? Wie es der Zufall will, hat Stefan Kühl (nomen est omen) in derselben Ausgabe von „Geisteswissenschaften“ das Selbstverständliche ausgesprochen: Jeder, der eine Weile in seinem Fach tätig ist, erkennt solche Beiträge schnell und spart sich seine Zeit für substantiellere Lektüren.

Kritik, die sich auf tatsächliche Eigenarten von academia.edu bezieht, ist immer wieder geäußert worden, mit sich wiederholenden Argumenten (typischerweise ebenfalls „zur Gänze computergeneriert“) und wohl ohne jemals nennenswert etwas zu bewirken. Keine Frage: Die Betreiber der Website nerven mit den zahllosen E-Mails und sonstigen Nachrichten, mit denen sie traffic generieren und die Nutzer zur Bezahlversion locken wollen. Ersteres kann man gewohnheitsmäßig rasch entsorgen, Letzteres erreicht mich als durchschnittlich eitlen Wissenschaftler nicht: Wer im Einzelnen meine Beiträge liest, ist mir gleich. Dass academia.edu privatwirtschaftlich betrieben wird und auch vom Datensammeln lebt, kann man aus generellen Erwägungen heraus ablehnen. Auch ich würde mir wünschen, dass die digitale Daseinsvorsorge von neutralen staatlichen Stellen betrieben würde, Suchmaschine, Handelsplattform, Datenverarbeitungsprogramme, Mitteilungendienste, und lese mit gemischten Gefühlen, ob die Philanthropen Jeff Bezos oder Bill Gates auf der Forbes-Liste gerade die Nase vorn haben. Auf ein Forschungsrepositorium wie academia.edu bezogen, kann man fordern: Es „wird deutlich, wie wichtig es wäre, ein funktionierendes Portal zu haben, das von der akademischen Welt selbst getragen wird und vorrangig den Interessen der Wissenschaft und nicht denen des Datenhandels dient. Solche Dinge müssen die wissenschaftliche Community und ihre Forschungsförderungs­organisationen selbst erledigen“. RainerSchregs Ideal, letztlich ein hilfloser Ruf nach „dem Staat“, scheint heute in ebenso weiter Ferne zu sein wie 2017 (weshalb Schreg auch heute unverändert auf dem Portal aktiv ist), und der Grund ist wohl nicht nur, dass academia.edu früher als andere am Markt war, sondern dass die Leute hinter dem Portal, so bedauerlich man das finden mag, beweglicher und innovativer sind, als staatlich finanzierte Akteure es je wären. Letzter Punkt ist die Besorgnis mancher Beobachter, die Nutzer könnten einer Metrics Mania verfallen und beim Verfertigen schlauer Gedanken von der Sucht nach Klickzahlen korrumpiert werden. „We feel compelled to feed our data doppelgänger just to keep up, baited by the relentless email reminders”, sorgt sich Jefferson Pooley.

Abgesehen davon, dass mich das vereinnahmende „Wir“ grundsätzlich stört, stimme ich Pooley auch im Speziellen nicht zu. Da academia.edu nicht nur Aufrufe eines Beitrags zählt, sondern auch die Downloads, hat man gleich zwei Parameter, die etwas über das Interesse der community an der eigenen Forschung sagen können. Auch wenn die Klickzahlen von manchen Zufällen abhängen, insbesondere ohne Frage davon, wie prominent ein Beitrag bei der konventionellen Google-Suche aufgeführt wird, behalten sie doch einen gewissen Aussagewert: Das gilt erst recht für die Downloads, für die sich ein Nutzer, nach mehr oder weniger intensiver Lektüre, immer explizit entscheidet. Auffällig ist, sicher nicht nur für mich, in diesem Zahlenmaterial zweierlei. Einmal ist das Verhältnis von Downloads zu Aufrufzahlen bei den einzelnen Beiträgen sehr verschieden, so dass sich oberflächliches und ausgeprägtes Interesse gut unterscheiden lassen. Und dann sehe ich deutlich, dass englischsprachige Beiträge im Verhältnis insgesamt deutlich häufiger aufgerufen werden als in deutscher Sprache verfasste.

So what? mag man fragen. Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin will gelesen werden und Anteil an der Debatte im eigenen Fach haben. Niemand, möchte ich behaupten, forscht und schreibt nach dem Grundsatz, nur strikt den eigenen Qualitätsmaßstäben genügen zu wollen. Academia kann, über den offenkundigen Vorzug des Informationsaustauschs auf dem riesigen Portal hinaus, ein wenig Orientierung über die Wirkung der eigenen Arbeiten geben. Die positiven und negativen Überraschungen entsprechen am Ende dem, was man auch in der analogen Welt erlebt.