Montag, 6. Juli 2020

Sie nennen es digitale Lehre

Es beginnt mit der Sprache, natürlich. „Digitale Lehre“ wird als Gegenbegriff gesetzt für das was zuvor – man kann sagen: für Jahrhunderte – die selbstverständliche Form von universitärem Unterricht war, Präsenz, direkter Austausch, sprachlich und visuell. Doch das Gegenstück zur Präsenzlehre ist natürlich nicht die digitale Lehre, sondern der Fern- oder Teleunterricht oder, wenn man es ganz genau und also wieder lateinisch ausdrücken wollte, die Absenzlehre. Fernunterricht hört sich wenig attraktiv an, digitale Lehre dagegen klingt modern. Dabei nutzen wir an den Universitäten digitale Medien schon seit fünfzehn Jahren in großem Umfang, Powerpoint, Beamer, online abrufbare Präsentationen sind lange eine Selbstverständlichkeit. Es ist ein simpler Fall von Framing, das Unterrichten auf Distanz durch die Begriffswahl als „zeitgemäß“ und innovativ zu markieren und so den Verlust durch die direkte Ansprache zu verschleiern.

Wenn man die Diskussion verfolgt, die in den Feuilletons der Zeitungen und in den sozialen Medien geführt wird, die Stellungnahmen der Hochschulleitungen liest und die Positionen zusammennimmt, die im direkten Gespräch geäußert werden, entsteht der Eindruck einer völlig zerfaserten Debatte. Argumente pro und contra rasche Rückkehr zur Präsenzlehre, vollständig oder partiell, liegen auf so unterschiedlichen Ebenen, dass eine Abwägung und ein konsensfähiges Ergebnis unmöglich zu sein scheinen. Dabei hört man nur wenige Stimmen von denen, für die der Fernunterricht gemacht wird, die Studenten. Meine Seminargruppe, mit 13 Personen vielleicht schon ein wenig repräsentativ, habe ich im Anschluss an eine reguläre Skype-Sitzung – mit Referat und wie immer sehr gehemmter Diskussion – nach ihren Erfahrungen befragt, zunächst ohne von meiner Seite einen Satz zum Thema zu sagen. Der Tenor war eindeutig: Vorlesungen per Aufzeichnungen seien eine gute Sache, weil man sich den Stoff so zu selbstgewählter Zeit und in selbstbestimmtem Tempo, dazu auch wiederholt, aneignen kann, bei Seminaren gab es dagegen fast unisono Ablehnung: künstliche Situation, reduzierter intellektueller Austausch, dazu der fast völlige Verlust der sozialen Dimension des Unilebens. Das konnte ich von meiner Seite nur bestätigen. Fast unvermeidlich bekamen wir dann auch das zu hören, was ich vermeiden wollte, sehr kritische Berichte aus anderen Fächern, wo „digital“ im Einzelfall heißt, das Vorlesungsskript stückweise ins Netz zu stellen, und dann: arrivederci bei der Klausur!

Einer der Innenhöfe des geschlossenen Philosophicums auf dem Campus der
Johannes Gutenberg-Universität (JGU) wächst zu (Fotos: K. Junker)
Von meinen Erfahrungen möchte ich eine als positiv herausheben. Die ‚Präsenz‘ bei den online abgehaltenen Seminarsitzungen war höher als im regulären Unterricht. Von den Teilnehmern hat fast nie jemand gefehlt, als ob die Schließung der Universität und der Wegfall des mitunter langen Wegs dorthin zu dem Impuls geführt hätten, sich dann jedenfalls an den Computer zu setzen, wenn es eine Möglichkeit der Verbindung mit den Lehrenden gibt. Auch ist kein einziges Referat ausgefallen, es gab noch nicht einmal eine Bitte um Verschiebung – das habe ich schon mehrere Jahre nicht mehr erlebt. Die virtuelle Verbindlichkeit scheint, jedenfalls in diesem ersten Semester neuer Art, höher zu sein als die im direkten Umgang von Mensch zu Mensch. Versteckt sich hier schon ein Punkt, der außerhalb des offiziellen Diskurses liegt: Kämpft mancher Student und manche Studentin sonst mit der Vortragssituation, die nun in sichere Distanz verlegt ist?

Ich war dankbar, als sich Georg Krausch, Präsident meiner Universität, der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, in der FAZ vom 27.6.2020 mit der Aussage verlauten ließ, „Die bare Wissensvermittlung mag digital noch recht gut funktionieren, aber für komplexe wissenschaftliche Sachverhalte müsse man reden und zuhören. Im direkten Austausch sei eine ganz andere Tiefe der Auseinandersetzung möglich“. Was er sagt, ist eine Selbstverständlichkeit, möchte man meinen, von jedem erlebt, der Unterrichtssituationen kennt und dort etwas vermitteln möchte. Und doch gibt es viele lobende Worte über den Fernunterricht, darüber, „wie gut alles funktioniert“ und dass man sich den Möglichkeiten stellen solle etc. Die wahren Gründe werden nach meiner Überzeugung nur unvollständig ausgesprochen und deshalb ist vieles, was über die „digitale Lehre“ gesagt, Teil einer Gespensterdebatte.

Da sind zunächst die Freunde des Digitalen. Ihre Leidenschaft gibt sich noch relativ offen zu erkennen und sie kann in der Öffentlichkeit mit einem relativ hohen Maß an allgemeiner Zustimmung rechnen, gerade bei den Hochschulleitungen, weil das Stichwort ohnehin präsent ist und weil, wie anfangs angesprochen, es pauschal für Fortschritt steht. Man denke an die „Digitalisierung“ der Schule bis in die Grundschule hinab, die von keinem pädagogischen Einwand gestoppt wird. Die Freunde des Digitalen, keine Frage, können hoffen, als Gewinner aus der Coronakrise in der Hochschullandschaft hervorzugehen.

Kaum noch offen gesprochen wird über einen anderen, einen psychosozialen Impuls, ehrliche Angst sowie, wohl eng damit verbunden, eine konformistische Haltung gegenüber den Verordnungen der Landesregierungen. Ich respektiere die Angst des Einzelnen, aber ich möchte mein Tun nicht von seinen Regungen bestimmen lassen. Fast schon Ergebenheit gegenüber den Autoritäten tritt hervor, wenn sich Wissenschaftler in den sozialen Medien mit Maske vor dem Gesicht zeigen: Sollen sie die Regeln beachten, wie sie es für richtig halten und was im Übrigen fast jeder in vergleichbarer Weise handhabt; aber warum der Menschheit mitteilen, dass man brav das tut, was die aktuellen Regularien verlangen?!

Hier darf wieder gearbeitet, wenn auch nicht unterrichtet werden:
Georg Forster-Gebäude auf dem Campus der JGU
Fast ganz im Bereich des Unaussprechlichen ist man mit einem letzten Impuls, Bequemlichkeit. Im informellen Kreis meiner Seminarrunde wurde kein Hehl daraus gemacht: sich zweimal eine Stunde Weg zur Uni sparen, ist für den einen oder die andere ein starkes Argument für den Fernunterricht. Bei den Lehrenden kann es nicht anders sein. Die bittere Forderung nach „Flexibilität“ verliert plötzlich viel von ihrem Schrecken – vielleicht hätte auch ich in der Zeit, als ich zwischen Mainz und Berlin pendeln musste, den Qualitätsverlust in der Lehre als das kleinere Übel gegenüber dem Freiheitsgewinn im Privaten abgewogen. Dass die Leidenschaft für die Lehre, für die Live-Situation mit den Studenten, unterschiedlich ausgeprägt ist, auch wenn niemand das quantifizieren kann, steht ebenfalls außer Frage.

Kurzum: Nicht die an der Oberfläche geführte Debatte, also nicht die Diskussion über die Intensität der Präsenzlehre versus die „neuen Möglichkeiten durch die Digitalität“ wird darüber entscheiden, wie stark die Coronazeit die universitäre Lehre umkrempelt. Die großenteils unter der Oberfläche wirksamen Kräfte, insbesondere das Interesse oder eben Desinteresse am lebendigen wissenschaftlichen Austausch, an der "Universität als Lebensform", und zwar bei den Studenten wie bei den Lehrkräften, werden es sein, die bestimmen, in welchem Maß wir zur Präsenzlehre zurückkehren und für welchen Zeitraum noch im bisher gekannten Umfang.