Montag, 9. September 2019

3D-Rekonstruktionen: „Auferstehung der Antike“ oder Rückkehr ins 19. Jahrhundert?


„Aus falsch verstandener Wissenschaftlichkeit vermeiden es die Archäologen und Bauforscher heutzutage meistens, hypothetische Raum-Perspektiven zu entwerfen, weil sie dabei unbekannte Bauelemente ergänzen müssten. Die Folge ist ein bedauerliches Absterben der Vorstellungskraft.“ Als Paul Zanker 1997 diese Bemerkung in seiner Schrift Der Kaiser baut fürs Volk (S. 16) machte, hätte er vielleicht schon erahnen können, wohin die Entwicklung tatsächlich führen würde. Zehn Jahre später waren die Aktivitäten auf dem Feld der computerbasierten Darstellung archäologischer Befunde bereits so zahlreich und vielfältig, dass der technische Fortschritt mit den Anforderungen an gute wissenschaftliche Arbeit in Konflikt zu geraten begann und mit dem London Charter ein Versuch gemacht wurde, Grundsätze im Umgang mit den Möglichkeiten der digitalen Rekonstruktion zu fixieren. Doch setzt sich bis heute beides fort, die technische Entwicklung wie auch die Kritik an der Anwendung computerbasierter Rekonstruktionen und Präsentationen archäologischer Artefakte: Fördert die neue Welt der digitalen Darstellung am Ende sogar so etwas wie digitalen Eskapismus (Monika Stobiecka, Digital Escapism. How Objects Become Deprived of Matter, Journal of Contemporary Archaeology 5.2, 2018 1–19)?

Auch im kurzen Vorwort des eben im Zabern-Verlag erschienenen Bandes Auferstehung der Antike. Archäologische Stätten digital rekonstruiert (Darmstadt 2019) wird diese Ambivalenz angesprochen. Im Sinne des London Charter wird betont, es müsse immer „mit Bedacht vorgegangen werden, die richtige und wohlüberlegte Methodik und Datengrundlage macht den Unterschied zwischen Fantasie und einer realistischen Rekonstruktion aus, die auch kenntlich macht bzw. dokumentiert, was gesichertes Wissen, was erschlossen ist und was Spekulation. Ein schmaler Grat.“

Den weitaus größten Teil der als Sonderheft der Zeitschrift Antike Welt erschienenen Publikation nimmt die Vorstellung von 24 Vorhaben ein. Auf eine doppelseitige Abbildung folgen jeweils zwei Seiten von den Projektverantwortlichen verfasster Text, in den kleinformatige Fotos eingefügt sind. Daten zur Laufzeit der Projekte, der eingesetzten Methodik und zu den beteiligten Institutionen schließen die Beiträge ab. Am Ende des Bandes finden sich zudem Literaturangaben zu den einzelnen Unternehmungen. Vier ausführliche „Hintergrundinfos“ zu technischen Fragen sowie der Wortlaut der London Charter (in deutscher Übersetzung) vervollständigen den Band.

Hinter dem vielleicht etwas zu plakativen Titel des Buches (war die Antike denn schon tot?) verbirgt sich ein weitestgehend nüchterner und lehrreicher Überblick über aktuelle archäologische Digitalisierungsprojekte im Bereich der Architektur. Anders als die homogene Aufmachung der einzelnen Beiträge und ihre neutrale Anordnung (grob) nach der geographischen Lage der Orte vielleicht nahelegen, sind die Rekonstruktionen, auch wenn es Zwischenformen gibt, tatsächlich relativ klar zwei ihrer Eigenart und ihrer Aufgabe nach verschiedenen Typen oder Ansätzen zuzuweisen. Auf der einen Seite stehen Projekte, die mit digitaler Methodik das fortführen, was früher bei Rekonstruktionen am Zeichentisch ausgeführt wurde, Aufrisse, Schnitte, perspektivische Zeichnungen und Axonometrien von antiken Gebäuden. Der Gewinn der digitalen Rekonstruktion liegt in der Möglichkeit, mit wenig Aufwand Varianten zu realisieren, die Ansicht frei zu wählen und vielfach auch darin, die Gebäude farbig zu gestalten. Die Darstellungsabsicht ist jedoch unverändert: es geht um Veranschaulichung wissenschaftlicher Forschung und dazu gehört auch, was jedenfalls in vielen Fällen beachtet wird, die Grenzen des Wissens bei der Rekonstruktion von Gebäuden und Raumsituationen sichtbar zu machen.

Ladenburg (Lopodunum), Forum-Basilika-Komplex
[©Jürgen Süß/Lobdengau-Museum Ladenburg]
Auf der anderen Seite stehen Projekte, die in aller Regel explizit die Absicht verfolgen, eine möglichst realistische Darstellung der baulichen Befunde zu erreichen. Realismus meint dabei alles, was beim zuvor genannten Modus vermieden wird: Angabe von Zufälligkeiten der Verwitterung, von lebensecht wiedergegebenen Menschen, großzügige Vervollständigung der Befunde auch dort, wo bestenfalls Analogien als Grundlage der Rekonstruktion dienen können, schließlich eine möglichst fotorealistische Gesamterscheinung. Es wäre falsch, die Ergebnisse wegen der fiktiven Elemente pauschal als unwissenschaftlich zu bezeichnen, doch besteht insofern ein Unterschied, als diese 3D-Rekonstruktionen zwar umfassend wissenschaftlich informiert sind, aufgrund des erklärten Ziels der perfekten Simulation aber unweigerlich in zum Teil beträchtlichem Umfang Elemente enthalten, die frei ergänzt sind und keine solide Stütze im archäologischen Befund haben. Rekonstruktionen dieses Typs wenden sich üblicherweise an das ungleich größere nicht-wissenschaftliche Publikum, auf Grabungsstätten, in Museum und Ausstellungen und als Zuschauer von TV-Dokumentationen.
Akrotiri, sog. Dreiecksplatz
[©7reasons/Michael Klein]
Ist also alles gut in den digitalen Welten und erhält jeder Adressatenkreis das jeweils angemessene Resultat? Vieles scheint hier im Fluss. Reflexionen der Autoren zum Vorgehen lassen mindestens zwei Konfliktlinien erkennen. Die Vertreter des Fotorealismus verteidigen den totalen Illusionismus gegen den Vorwurf der partiellen Unwissenschaftlichkeit mit dem Maximum an Anschaulichkeit, das sie bieten (müssen). Die Vertreter der Wissenschaft dagegen verteidigen den partiell illusionistischen und mitunter auch partiell fiktiven Charakter ihrer Rekonstruktionen mit der Notwendigkeit, etwas „visuell Ansprechendes zu bieten“ (11. 31. 105).
Dahinter steht eine Entwicklung, die in dem Band nicht explizit angesprochen wird. Ein großer Teil der vorgestellten Vorhaben ist mit Unterstützung spezialisierter Einrichtungen, darunter einer ganzen Reihe von kommerziellen Firmen, entstanden. Der dort inzwischen entwickelte Standard gibt gleichsam den state of the art vor: Wer sein Publikum und besonders ein „junges Publikum“ erfolgreich ansprechen will, der muss mit der Ästhetik des Milliardenmarkts Computerspiele mithalten. Ubisofts Assasin’s Creed-Serie wirkt ohne Frage weit über die Gamerszene hinaus. Gegen das, was versierte „3D-Artists“ zu erschaffen imstande sind, erscheint eine mit relativ geringem technischem Aufwand erstellte „flache“ Rekonstruktion schnell wie eine digitale Laubsägearbeit von vorgestern. Zankers Forderung ist hier übererfüllt: Wo alles bis ins letzte Detail ausgeführt ist, bleibt kein Raum mehr für die eigene Vorstellungskraft und historische Imagination.

Apropos vorgestern. Ihrem Ergebnis nach stellt die aktuelle Entwicklung eine Rückkehr zur Rekonstruktionsfreude des 19. Jahrhunderts dar. Die prachtvollen Aquarell-Zeichnungen, die französische Architekten als Träger des Prix de Rome in Griechenland herstellten, oder die großen Panoramen von Pergamon, Olympia und anderen Grabungsstätten gehören einer Epoche an, die untergegangen war und jetzt tatsächlich wiederaufzuerstehen scheint. Auch wenn sie den Mitteln nach völlig verschieden sind, knüpfen 3D-Rekonstruktionen von heute, was die Art der realistischen oder sogar illusionistischen Darstellung angeht, an Arbeiten vor mehr als hundert Jahren an. Aber sind auch die Impulse dieselben wie damals?
Benoit Loviot, Athen, Parthenon, Schnitt (1880)
Vermutlich kommen hier zwei Faktoren zusammen. Was technisch möglich und neu ist, wird, gleich in welchem Bereich, immer Verfechter finden, die diese moderne Technik auch anwenden wollen. Antike Bauten und Ruinenstätte stellen ein fast unbegrenztes Feld für die Veranschaulichung mit den seit etwa zwanzig Jahren zur Verfügung stehenden Mitteln dar. Im Bereich der populärwissenschaftlichen Vermittlung stellt dies ohne Frage eine volle Legitimation für die in der Regel kostspielige Erstellung von aufwendigen digitalen Rekonstruktionen dar. Für den Bereich Forschung gilt dies nicht, weshalb dort wieder und wieder, dabei aber selten mit überzeugender Begründung, der wissenschaftliche Mehrwert der Projekte herausgestellt wird, vermutlich nicht zuletzt mit Blick auf die Geldgeber, die das alles möglich gemacht haben.

Neben der ‚Eigendynamik‘ der neuen technischen Möglichkeiten als im Wesentlichen extrinsischem Faktor – auf academia.edu hat „Digital Archaeology“ deutlich mehr Interessenten als „Greek Sculpture“ – gibt es vermutlich aber auch einen starken intrinsischen Faktor. Zu den neuerdings aufblühenden Feldern in unserer Disziplin gehört die „Archäologie der Sinne“ – ich bin auf die Sensory Archaeology bereits in meinem Blog-Beitrag zur Ausstellung Divine Design eingegangen. Gerüchen, Geräuschen und dem Wechsel von visuellen Eindrücken in der antiken Stadt nachzugehen, wie es in einer ganzen Reihe neuerer Publikationen geschieht, bedeutet, sinnliche Wahrnehmung in ihrer elementaren Form zum Gegenstand der Forschung zu machen. Das eine wie das andere, die fotorealistische digitale Nachbildung von antiken Raumsituationen wie die Archäologie der Sinne, ist eine Feier der Oberfläche. Dies mit dem „Material Turn“ in Verbindung zu bringen (um noch einmal auf den Aufsatz von Monika Stobiecka Bezug zu nehmen), suggeriert Innovation, wo in Wirklichkeit vielleicht doch das Verlustkonto stärker ist als der Gewinn. Die sinnliche Präsenz hat im günstigen Fall ihre unmittelbare Überzeugungskraft. Ob sie zum Kerngeschäft der (Klassischen) Archäologie als einer Geisteswissenschaft, zur Beschäftigung mit Strukturen unter der Oberfläche und mit geistesgeschichtlichen Entwicklungen, einen substantiellen und dauerhaften Beitrag leisten kann, erscheint mir zweifelhaft. Wenn sich die Energie auf das Ausschöpfen der technischen Möglichkeiten richtet und zudem die Tendenz besteht, mit der Schaffung möglichst perfekter Nachbildungen die Distanz zum antiken Gegenstand zu verringern oder aufzulösen, dann geht der Fortschritt am Ende auf Kosten einer produktiven Spannung, aus der heraus neue Ideen und Interpretationen entwickelt werden.