Freitag, 4. April 2014

Neues zur Athena-Marsyas-Gruppe des Myron. Wie moralisierend ist die griechische Kunst?

Im letzten Band des Archäologischen Anzeigers hat sich Volker Michael Strocka mit einem großen Stuckrelief in Ephesos beschäftigt (Band 2013/1, S. 85-94). Das wohl im späteren 2. Jahrhundert n.Chr. entstandene, 1973 bekannt gewordene Werk befindet sich an der Stirnwand der sog. Basilica privata von Hanghaus 2. Die Funktion des Raumes kann nur erschlossen werden; vermutlich diente er für Gelage und andere festliche Zusammenkünfte.
Das Relief ist stark beschädigt, doch lassen sich die Umrisse der vier Figuren noch gut ablesen. Außen befinden sich zwei Eroten, in der Mitte eine männliche und eine weibliche Figur. Aufgrund der Eroten wurden die beiden Protagonisten bisher als Liebespaar identifiziert, ohne dass sich die konkreten Benennungen überzeugend auf motivische Details stützen konnten. Strocka hat nun das, was zu erkennen ist, genauer angesehen und erkannt, dass Athena und Marsyas dargestellt sind, in einer freien Adaptation der hochklassischen Skulpturengruppe des Myron auf der Athener Akropolis. Eine glänzende Beobachtung und damit eine wichtige Erweiterung unserer Kenntnis der römischen Rezeption des klassischen Werks!
Ephesos, Hanghaus 2, sog. Basilica privata, Stuckrelief mit Athena und Marsyas
 (Foto: E. Rathmayr)
Sehr befremdlich sind dagegen die dann folgenden Bemerkungen zur Interpretation von Relief und Mythos. Das beginnt mit den Angaben zur einzigen Passage in der antiken Literatur, die sich mit der myronischen Gruppe befasst. Für diesen entscheidenden Satz des Augenzeugen Pausanias (1,24,1) legt Strocka eine neue Übersetzung vor. Athena „schlägt“ (paio) Marsyas, so wurde die Aussage des Pausanias immer übersetzt. Strocka dagegen liest „Athena stößt den Marsyas weg“, ohne Belege dafür anzugeben und ohne auf die Positionen der vor mehr als hundert Jahren begonnenen Diskussion zu diesem Satz Bezug zu nehmen. Wie beliebig dies ist, macht Strocka selbst deutlich, wenn er in einer Anmerkung einen weiteren Übersetzungsvorschlag macht („Athena stößt die Auloi weg“), die eine andere Auffassung der mythischen Handlung und eine andere Rekonstruktion der Skulpturengruppe verlangen würde.
Strocka hängt ausdrücklich der alten moralisierenden Vorstellung an: die hehre Göttin Athena würde – gleichsam als personifizierte Sittenstrenge – gegenüber Marsyas eine abwehrende Geste machen, um Distanz und Abscheu gegenüber dem Satyrn und der von ihm ausgeübten wilden Aulosmusik zum Ausdruck zu bringen. Eine der römischen Kopien der Athena des Myron widerspricht dieser Rekonstruktion (Replik Lancellotti). Die Statue wird kurzerhand als Umbildung eingestuft, damit sie sich Strockas Verständnis der Gruppe fügt. Dass ein Forscher, der seine Dissertation über ein Thema aus dem Bereich der Kopienkritik, der Analyse römischer Kopien zur Wiedergewinnung griechischer Originale, geschrieben hat, dieses Forschungsfeld durch ein solches Vorgehen de facto der Lächerlichkeit preis gibt, ist bemerkenswert.
Schließlich die Frage nach dem Sinngehalt, der hochklassischen Statuengruppe wie dann auch des Reliefs in Ephesos. Im Text von Strocka verfließen der kulturelle Kontext des einen und des anderen Werks völlig ineinander, und aus der komplexen Überlieferung findet nur das Beachtung, was geeignet ist, die moralisierende Interpretation zu stützen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ja, es gab Kritik an der „orgiastischen“ Aulosmusik in der Myronzeit, aber gerade die archäologischen Zeugnisse dokumentieren eindrucksvoll die außerordentliche Beliebtheit dieser Musik in eben dieser Zeit und sogar im Kult der Athena! Vom klassischen Athen ist es dann nur ein kleiner Schritt zum mutmaßlichen Gelagesaal in Ephesos, wo das aufwendige Relief die Aufgabe gehabt habe, die Anwesenden zur Mäßigung aufzurufen: „Trinken schadet Ihrer Gesundheit!“

Athena und Marsyas: Römische Kopien der Gruppe des Myron in Frankfurt und Rom/Vatikan
(Fotocollage: K. Junker/T. Petzel)


In einem längeren Aufsatz habe ich dargelegt, dass Athena und Marsyas in der mythischen Vorstellung tatsächlich Partner sind (Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 117, 2002; danach in weiteren Beiträgen, zuletzt 2012 in der Monographie Götter als Erfinder, zus. mit Sabrina Strohwald): die Göttin erfindet das Musizieren mit den Auloi („Doppelflöte“), verzichtet aber auf die Ausübung, die statt dessen von Marsyas übernommen wird, der zum Virtuosen auf dem Instrument und zum Vermittler dieser Kunst an die Menschen wird. Die neu identifizierte Darstellung in Ephesos liefert einen neuen Beleg für die Richtigkeit dieser – nicht nur für die griechische Welt zutreffenden – Interpretation von Mythos und bildlichen Wiedergaben. Die ersten Bearbeiter des Reliefs in Ephesos sind, methodologisch zweifellos richtig, von den sekundären Figuren ausgegangen, die den Vorzug haben, sicher identifizierbar und dazu in ihrem Sinngehalt unstrittig zu sein: Die beiden Eroten stellen eine harmonisierende Klammer für die zwei Hauptfiguren dar. Ein Liebespaar sind diese beiden in der Tat nicht, aber sie kooperieren: Sie machen auf der Ebene des Mythos verständlich, wie die Kunst des Aulosspiels von den Göttern zu den Menschen gekommen ist. Das Lob der göttlichen Erfinderin verbindet sich mit der Feier dionysischer Sinnlichkeit. Der Standort in Ephesos scheint denkbar passend dafür. Doch sie sitzt noch tief, die alte humanistische Vorstellung, griechische Kunst habe wesentlich dazu gedient, zum rechten Verhalten und vor allem zum Maßhalten aufzurufen. Sowohl in Athen als auch, einige hundert Jahre später, bei den sicher nicht minder drogenmündigen Ephesiern hätte man solche Appelle wohl lächerlich gefunden.