Montag, 6. Juli 2020

Wolfgang Kemp wütet gegen academia.edu


[tatsächlich veröffentlicht am 23.1.2020]

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Januar 2020 (Seite „Geisteswissenschaften“) hat der renommierte Kunsthistoriker Wolfgang Kemp einen Artikel über die Website academia.edu publiziert, der vom ersten bis zum letzten Satz von Ironie und Spott geleitet ist. Der Artikel bezieht sich explizit  auf eine bestimmte Form von Publikationen, Papers „printed on own demand“. Gemeint sind damit Beiträge, die, salopp gesprochen, nur Aufgüsse von schon Bekanntem, gerne auch von selbst Geschriebenem sind, die also ohne eigene Datenerhebung und natürlich erst recht ohne eigene Gedanken auskämen: „Es geht um zur Gänze computergenerierte Forschung: recherchiert und geschrieben auf dem Rechner …“ Der Anteil solcher letztlich inhaltsloser Meta-Aufsätze – „das handelsübliche academia-Paper fällt ziemlich konform aus“ – ist in den Geisteswissenschaften wohl doch weniger groß, als Kemp suggeriert. Tatsächlich nennt er als Fach, das auf diesem unguten Feld besonders produktiv sei, die Sozialpsychologie. Um den Umfang dieser Scheinwissenschaft anzudeuten, schreibt Kemp, „man rechnet pro Jahr derzeit mit 1,8 Millionen Papers, davon grob überschlagen 400 000 in sogenannten Junk Journals publiziert“. Zu der erstgenannten Zahl, die sich offenbar auf den Bereich der Naturwissenschaften bezieht, kann man im Netz vage Nachweise finden. Und weiter: „Academia.edu ist für gewiefte Berufungskommissionen, was Instagram, was Whatsapp für den Personalchef sind, wenn er sich über die Bewerbungen auf eine Nachwuchsstelle beugt.“ Das schießt eindeutig über das Ziel hinaus. Einmal waren in Berufungskommissionen, wenn es um den wissenschaftlichen output ging, schon vor der Etablierung von Social Media mitunter Erbsenzähler am Werk. Zum anderen können auch Personalchefs, soweit sie nicht besondere Hackerqualitäten besitzen, die private Korrespondenz auf Whatsapp nicht mitlesen.
Der Bamberger Reiter (Wikimedia Commons)
Der zweite Teil des Zeitungsartikels widmet sich einem einzelnen Aufsatz, nun aus Kemps Fachgebiet, über die Interpretation des Bamberger Reiters. Der Name des Autors (der „Person“) wird nicht genannt, doch funktioniert die Anonymisierung nach dem Prinzip “For the sake of privacy let's call her Lisa S... No that's too obvious, let's say L. Simpson”. Der schon vor einigen Jahren erschienene Aufsatz von Assaf Pinkus ist so gut oder so schlecht wie viele Beiträge mit vergleichbarem Ansatz: Der Reiter lasse unterschiedliche Assoziationen zu und sei schon von den Zeitgenossen sehr unterschiedlich wahrgenommen worden. Um ein „handelsübliches academia-Paper“ handelt es sich allerdings gerade nicht, denn der Aufsatz ist in einer Zeitschrift mit double-blind peer review erschienen. Am Ende muss man sich fragen, was der Impuls für Kemps Philippika war. Wollte er seinem Ärger über Aufsätze ohne eine (nach seinem Urteil) originäre Forschungsleistung freien Lauf lassen und hat, statt eben das auszusprechen, die Plattform attackiert, die die Schaffung dieser Art von Publikationen angeblich besonders fördert? Wie es der Zufall will, hat Stefan Kühl (nomen est omen) in derselben Ausgabe von „Geisteswissenschaften“ das Selbstverständliche ausgesprochen: Jeder, der eine Weile in seinem Fach tätig ist, erkennt solche Beiträge schnell und spart sich seine Zeit für substantiellere Lektüren.

Kritik, die sich auf tatsächliche Eigenarten von academia.edu bezieht, ist immer wieder geäußert worden, mit sich wiederholenden Argumenten (typischerweise ebenfalls „zur Gänze computergeneriert“) und wohl ohne jemals nennenswert etwas zu bewirken. Keine Frage: Die Betreiber der Website nerven mit den zahllosen E-Mails und sonstigen Nachrichten, mit denen sie traffic generieren und die Nutzer zur Bezahlversion locken wollen. Ersteres kann man gewohnheitsmäßig rasch entsorgen, Letzteres erreicht mich als durchschnittlich eitlen Wissenschaftler nicht: Wer im Einzelnen meine Beiträge liest, ist mir gleich. Dass academia.edu privatwirtschaftlich betrieben wird und auch vom Datensammeln lebt, kann man aus generellen Erwägungen heraus ablehnen. Auch ich würde mir wünschen, dass die digitale Daseinsvorsorge von neutralen staatlichen Stellen betrieben würde, Suchmaschine, Handelsplattform, Datenverarbeitungsprogramme, Mitteilungendienste, und lese mit gemischten Gefühlen, ob die Philanthropen Jeff Bezos oder Bill Gates auf der Forbes-Liste gerade die Nase vorn haben. Auf ein Forschungsrepositorium wie academia.edu bezogen, kann man fordern: Es „wird deutlich, wie wichtig es wäre, ein funktionierendes Portal zu haben, das von der akademischen Welt selbst getragen wird und vorrangig den Interessen der Wissenschaft und nicht denen des Datenhandels dient. Solche Dinge müssen die wissenschaftliche Community und ihre Forschungsförderungs­organisationen selbst erledigen“. RainerSchregs Ideal, letztlich ein hilfloser Ruf nach „dem Staat“, scheint heute in ebenso weiter Ferne zu sein wie 2017 (weshalb Schreg auch heute unverändert auf dem Portal aktiv ist), und der Grund ist wohl nicht nur, dass academia.edu früher als andere am Markt war, sondern dass die Leute hinter dem Portal, so bedauerlich man das finden mag, beweglicher und innovativer sind, als staatlich finanzierte Akteure es je wären. Letzter Punkt ist die Besorgnis mancher Beobachter, die Nutzer könnten einer Metrics Mania verfallen und beim Verfertigen schlauer Gedanken von der Sucht nach Klickzahlen korrumpiert werden. „We feel compelled to feed our data doppelgänger just to keep up, baited by the relentless email reminders”, sorgt sich Jefferson Pooley.

Abgesehen davon, dass mich das vereinnahmende „Wir“ grundsätzlich stört, stimme ich Pooley auch im Speziellen nicht zu. Da academia.edu nicht nur Aufrufe eines Beitrags zählt, sondern auch die Downloads, hat man gleich zwei Parameter, die etwas über das Interesse der community an der eigenen Forschung sagen können. Auch wenn die Klickzahlen von manchen Zufällen abhängen, insbesondere ohne Frage davon, wie prominent ein Beitrag bei der konventionellen Google-Suche aufgeführt wird, behalten sie doch einen gewissen Aussagewert: Das gilt erst recht für die Downloads, für die sich ein Nutzer, nach mehr oder weniger intensiver Lektüre, immer explizit entscheidet. Auffällig ist, sicher nicht nur für mich, in diesem Zahlenmaterial zweierlei. Einmal ist das Verhältnis von Downloads zu Aufrufzahlen bei den einzelnen Beiträgen sehr verschieden, so dass sich oberflächliches und ausgeprägtes Interesse gut unterscheiden lassen. Und dann sehe ich deutlich, dass englischsprachige Beiträge im Verhältnis insgesamt deutlich häufiger aufgerufen werden als in deutscher Sprache verfasste.

So what? mag man fragen. Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin will gelesen werden und Anteil an der Debatte im eigenen Fach haben. Niemand, möchte ich behaupten, forscht und schreibt nach dem Grundsatz, nur strikt den eigenen Qualitätsmaßstäben genügen zu wollen. Academia kann, über den offenkundigen Vorzug des Informationsaustauschs auf dem riesigen Portal hinaus, ein wenig Orientierung über die Wirkung der eigenen Arbeiten geben. Die positiven und negativen Überraschungen entsprechen am Ende dem, was man auch in der analogen Welt erlebt.

Sie nennen es digitale Lehre

Es beginnt mit der Sprache, natürlich. „Digitale Lehre“ wird als Gegenbegriff gesetzt für das was zuvor – man kann sagen: für Jahrhunderte – die selbstverständliche Form von universitärem Unterricht war, Präsenz, direkter Austausch, sprachlich und visuell. Doch das Gegenstück zur Präsenzlehre ist natürlich nicht die digitale Lehre, sondern der Fern- oder Teleunterricht oder, wenn man es ganz genau und also wieder lateinisch ausdrücken wollte, die Absenzlehre. Fernunterricht hört sich wenig attraktiv an, digitale Lehre dagegen klingt modern. Dabei nutzen wir an den Universitäten digitale Medien schon seit fünfzehn Jahren in großem Umfang, Powerpoint, Beamer, online abrufbare Präsentationen sind lange eine Selbstverständlichkeit. Es ist ein simpler Fall von Framing, das Unterrichten auf Distanz durch die Begriffswahl als „zeitgemäß“ und innovativ zu markieren und so den Verlust durch die direkte Ansprache zu verschleiern.

Wenn man die Diskussion verfolgt, die in den Feuilletons der Zeitungen und in den sozialen Medien geführt wird, die Stellungnahmen der Hochschulleitungen liest und die Positionen zusammennimmt, die im direkten Gespräch geäußert werden, entsteht der Eindruck einer völlig zerfaserten Debatte. Argumente pro und contra rasche Rückkehr zur Präsenzlehre, vollständig oder partiell, liegen auf so unterschiedlichen Ebenen, dass eine Abwägung und ein konsensfähiges Ergebnis unmöglich zu sein scheinen. Dabei hört man nur wenige Stimmen von denen, für die der Fernunterricht gemacht wird, die Studenten. Meine Seminargruppe, mit 13 Personen vielleicht schon ein wenig repräsentativ, habe ich im Anschluss an eine reguläre Skype-Sitzung – mit Referat und wie immer sehr gehemmter Diskussion – nach ihren Erfahrungen befragt, zunächst ohne von meiner Seite einen Satz zum Thema zu sagen. Der Tenor war eindeutig: Vorlesungen per Aufzeichnungen seien eine gute Sache, weil man sich den Stoff so zu selbstgewählter Zeit und in selbstbestimmtem Tempo, dazu auch wiederholt, aneignen kann, bei Seminaren gab es dagegen fast unisono Ablehnung: künstliche Situation, reduzierter intellektueller Austausch, dazu der fast völlige Verlust der sozialen Dimension des Unilebens. Das konnte ich von meiner Seite nur bestätigen. Fast unvermeidlich bekamen wir dann auch das zu hören, was ich vermeiden wollte, sehr kritische Berichte aus anderen Fächern, wo „digital“ im Einzelfall heißt, das Vorlesungsskript stückweise ins Netz zu stellen, und dann: arrivederci bei der Klausur!

Einer der Innenhöfe des geschlossenen Philosophicums auf dem Campus der
Johannes Gutenberg-Universität (JGU) wächst zu (Fotos: K. Junker)
Von meinen Erfahrungen möchte ich eine als positiv herausheben. Die ‚Präsenz‘ bei den online abgehaltenen Seminarsitzungen war höher als im regulären Unterricht. Von den Teilnehmern hat fast nie jemand gefehlt, als ob die Schließung der Universität und der Wegfall des mitunter langen Wegs dorthin zu dem Impuls geführt hätten, sich dann jedenfalls an den Computer zu setzen, wenn es eine Möglichkeit der Verbindung mit den Lehrenden gibt. Auch ist kein einziges Referat ausgefallen, es gab noch nicht einmal eine Bitte um Verschiebung – das habe ich schon mehrere Jahre nicht mehr erlebt. Die virtuelle Verbindlichkeit scheint, jedenfalls in diesem ersten Semester neuer Art, höher zu sein als die im direkten Umgang von Mensch zu Mensch. Versteckt sich hier schon ein Punkt, der außerhalb des offiziellen Diskurses liegt: Kämpft mancher Student und manche Studentin sonst mit der Vortragssituation, die nun in sichere Distanz verlegt ist?

Ich war dankbar, als sich Georg Krausch, Präsident meiner Universität, der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, in der FAZ vom 27.6.2020 mit der Aussage verlauten ließ, „Die bare Wissensvermittlung mag digital noch recht gut funktionieren, aber für komplexe wissenschaftliche Sachverhalte müsse man reden und zuhören. Im direkten Austausch sei eine ganz andere Tiefe der Auseinandersetzung möglich“. Was er sagt, ist eine Selbstverständlichkeit, möchte man meinen, von jedem erlebt, der Unterrichtssituationen kennt und dort etwas vermitteln möchte. Und doch gibt es viele lobende Worte über den Fernunterricht, darüber, „wie gut alles funktioniert“ und dass man sich den Möglichkeiten stellen solle etc. Die wahren Gründe werden nach meiner Überzeugung nur unvollständig ausgesprochen und deshalb ist vieles, was über die „digitale Lehre“ gesagt, Teil einer Gespensterdebatte.

Da sind zunächst die Freunde des Digitalen. Ihre Leidenschaft gibt sich noch relativ offen zu erkennen und sie kann in der Öffentlichkeit mit einem relativ hohen Maß an allgemeiner Zustimmung rechnen, gerade bei den Hochschulleitungen, weil das Stichwort ohnehin präsent ist und weil, wie anfangs angesprochen, es pauschal für Fortschritt steht. Man denke an die „Digitalisierung“ der Schule bis in die Grundschule hinab, die von keinem pädagogischen Einwand gestoppt wird. Die Freunde des Digitalen, keine Frage, können hoffen, als Gewinner aus der Coronakrise in der Hochschullandschaft hervorzugehen.

Kaum noch offen gesprochen wird über einen anderen, einen psychosozialen Impuls, ehrliche Angst sowie, wohl eng damit verbunden, eine konformistische Haltung gegenüber den Verordnungen der Landesregierungen. Ich respektiere die Angst des Einzelnen, aber ich möchte mein Tun nicht von seinen Regungen bestimmen lassen. Fast schon Ergebenheit gegenüber den Autoritäten tritt hervor, wenn sich Wissenschaftler in den sozialen Medien mit Maske vor dem Gesicht zeigen: Sollen sie die Regeln beachten, wie sie es für richtig halten und was im Übrigen fast jeder in vergleichbarer Weise handhabt; aber warum der Menschheit mitteilen, dass man brav das tut, was die aktuellen Regularien verlangen?!

Hier darf wieder gearbeitet, wenn auch nicht unterrichtet werden:
Georg Forster-Gebäude auf dem Campus der JGU
Fast ganz im Bereich des Unaussprechlichen ist man mit einem letzten Impuls, Bequemlichkeit. Im informellen Kreis meiner Seminarrunde wurde kein Hehl daraus gemacht: sich zweimal eine Stunde Weg zur Uni sparen, ist für den einen oder die andere ein starkes Argument für den Fernunterricht. Bei den Lehrenden kann es nicht anders sein. Die bittere Forderung nach „Flexibilität“ verliert plötzlich viel von ihrem Schrecken – vielleicht hätte auch ich in der Zeit, als ich zwischen Mainz und Berlin pendeln musste, den Qualitätsverlust in der Lehre als das kleinere Übel gegenüber dem Freiheitsgewinn im Privaten abgewogen. Dass die Leidenschaft für die Lehre, für die Live-Situation mit den Studenten, unterschiedlich ausgeprägt ist, auch wenn niemand das quantifizieren kann, steht ebenfalls außer Frage.

Kurzum: Nicht die an der Oberfläche geführte Debatte, also nicht die Diskussion über die Intensität der Präsenzlehre versus die „neuen Möglichkeiten durch die Digitalität“ wird darüber entscheiden, wie stark die Coronazeit die universitäre Lehre umkrempelt. Die großenteils unter der Oberfläche wirksamen Kräfte, insbesondere das Interesse oder eben Desinteresse am lebendigen wissenschaftlichen Austausch, an der "Universität als Lebensform", und zwar bei den Studenten wie bei den Lehrkräften, werden es sein, die bestimmen, in welchem Maß wir zur Präsenzlehre zurückkehren und für welchen Zeitraum noch im bisher gekannten Umfang. 

Montag, 9. September 2019

3D-Rekonstruktionen: „Auferstehung der Antike“ oder Rückkehr ins 19. Jahrhundert?


„Aus falsch verstandener Wissenschaftlichkeit vermeiden es die Archäologen und Bauforscher heutzutage meistens, hypothetische Raum-Perspektiven zu entwerfen, weil sie dabei unbekannte Bauelemente ergänzen müssten. Die Folge ist ein bedauerliches Absterben der Vorstellungskraft.“ Als Paul Zanker 1997 diese Bemerkung in seiner Schrift Der Kaiser baut fürs Volk (S. 16) machte, hätte er vielleicht schon erahnen können, wohin die Entwicklung tatsächlich führen würde. Zehn Jahre später waren die Aktivitäten auf dem Feld der computerbasierten Darstellung archäologischer Befunde bereits so zahlreich und vielfältig, dass der technische Fortschritt mit den Anforderungen an gute wissenschaftliche Arbeit in Konflikt zu geraten begann und mit dem London Charter ein Versuch gemacht wurde, Grundsätze im Umgang mit den Möglichkeiten der digitalen Rekonstruktion zu fixieren. Doch setzt sich bis heute beides fort, die technische Entwicklung wie auch die Kritik an der Anwendung computerbasierter Rekonstruktionen und Präsentationen archäologischer Artefakte: Fördert die neue Welt der digitalen Darstellung am Ende sogar so etwas wie digitalen Eskapismus (Monika Stobiecka, Digital Escapism. How Objects Become Deprived of Matter, Journal of Contemporary Archaeology 5.2, 2018 1–19)?

Auch im kurzen Vorwort des eben im Zabern-Verlag erschienenen Bandes Auferstehung der Antike. Archäologische Stätten digital rekonstruiert (Darmstadt 2019) wird diese Ambivalenz angesprochen. Im Sinne des London Charter wird betont, es müsse immer „mit Bedacht vorgegangen werden, die richtige und wohlüberlegte Methodik und Datengrundlage macht den Unterschied zwischen Fantasie und einer realistischen Rekonstruktion aus, die auch kenntlich macht bzw. dokumentiert, was gesichertes Wissen, was erschlossen ist und was Spekulation. Ein schmaler Grat.“

Den weitaus größten Teil der als Sonderheft der Zeitschrift Antike Welt erschienenen Publikation nimmt die Vorstellung von 24 Vorhaben ein. Auf eine doppelseitige Abbildung folgen jeweils zwei Seiten von den Projektverantwortlichen verfasster Text, in den kleinformatige Fotos eingefügt sind. Daten zur Laufzeit der Projekte, der eingesetzten Methodik und zu den beteiligten Institutionen schließen die Beiträge ab. Am Ende des Bandes finden sich zudem Literaturangaben zu den einzelnen Unternehmungen. Vier ausführliche „Hintergrundinfos“ zu technischen Fragen sowie der Wortlaut der London Charter (in deutscher Übersetzung) vervollständigen den Band.

Hinter dem vielleicht etwas zu plakativen Titel des Buches (war die Antike denn schon tot?) verbirgt sich ein weitestgehend nüchterner und lehrreicher Überblick über aktuelle archäologische Digitalisierungsprojekte im Bereich der Architektur. Anders als die homogene Aufmachung der einzelnen Beiträge und ihre neutrale Anordnung (grob) nach der geographischen Lage der Orte vielleicht nahelegen, sind die Rekonstruktionen, auch wenn es Zwischenformen gibt, tatsächlich relativ klar zwei ihrer Eigenart und ihrer Aufgabe nach verschiedenen Typen oder Ansätzen zuzuweisen. Auf der einen Seite stehen Projekte, die mit digitaler Methodik das fortführen, was früher bei Rekonstruktionen am Zeichentisch ausgeführt wurde, Aufrisse, Schnitte, perspektivische Zeichnungen und Axonometrien von antiken Gebäuden. Der Gewinn der digitalen Rekonstruktion liegt in der Möglichkeit, mit wenig Aufwand Varianten zu realisieren, die Ansicht frei zu wählen und vielfach auch darin, die Gebäude farbig zu gestalten. Die Darstellungsabsicht ist jedoch unverändert: es geht um Veranschaulichung wissenschaftlicher Forschung und dazu gehört auch, was jedenfalls in vielen Fällen beachtet wird, die Grenzen des Wissens bei der Rekonstruktion von Gebäuden und Raumsituationen sichtbar zu machen.

Ladenburg (Lopodunum), Forum-Basilika-Komplex
[©Jürgen Süß/Lobdengau-Museum Ladenburg]
Auf der anderen Seite stehen Projekte, die in aller Regel explizit die Absicht verfolgen, eine möglichst realistische Darstellung der baulichen Befunde zu erreichen. Realismus meint dabei alles, was beim zuvor genannten Modus vermieden wird: Angabe von Zufälligkeiten der Verwitterung, von lebensecht wiedergegebenen Menschen, großzügige Vervollständigung der Befunde auch dort, wo bestenfalls Analogien als Grundlage der Rekonstruktion dienen können, schließlich eine möglichst fotorealistische Gesamterscheinung. Es wäre falsch, die Ergebnisse wegen der fiktiven Elemente pauschal als unwissenschaftlich zu bezeichnen, doch besteht insofern ein Unterschied, als diese 3D-Rekonstruktionen zwar umfassend wissenschaftlich informiert sind, aufgrund des erklärten Ziels der perfekten Simulation aber unweigerlich in zum Teil beträchtlichem Umfang Elemente enthalten, die frei ergänzt sind und keine solide Stütze im archäologischen Befund haben. Rekonstruktionen dieses Typs wenden sich üblicherweise an das ungleich größere nicht-wissenschaftliche Publikum, auf Grabungsstätten, in Museum und Ausstellungen und als Zuschauer von TV-Dokumentationen.
Akrotiri, sog. Dreiecksplatz
[©7reasons/Michael Klein]
Ist also alles gut in den digitalen Welten und erhält jeder Adressatenkreis das jeweils angemessene Resultat? Vieles scheint hier im Fluss. Reflexionen der Autoren zum Vorgehen lassen mindestens zwei Konfliktlinien erkennen. Die Vertreter des Fotorealismus verteidigen den totalen Illusionismus gegen den Vorwurf der partiellen Unwissenschaftlichkeit mit dem Maximum an Anschaulichkeit, das sie bieten (müssen). Die Vertreter der Wissenschaft dagegen verteidigen den partiell illusionistischen und mitunter auch partiell fiktiven Charakter ihrer Rekonstruktionen mit der Notwendigkeit, etwas „visuell Ansprechendes zu bieten“ (11. 31. 105).
Dahinter steht eine Entwicklung, die in dem Band nicht explizit angesprochen wird. Ein großer Teil der vorgestellten Vorhaben ist mit Unterstützung spezialisierter Einrichtungen, darunter einer ganzen Reihe von kommerziellen Firmen, entstanden. Der dort inzwischen entwickelte Standard gibt gleichsam den state of the art vor: Wer sein Publikum und besonders ein „junges Publikum“ erfolgreich ansprechen will, der muss mit der Ästhetik des Milliardenmarkts Computerspiele mithalten. Ubisofts Assasin’s Creed-Serie wirkt ohne Frage weit über die Gamerszene hinaus. Gegen das, was versierte „3D-Artists“ zu erschaffen imstande sind, erscheint eine mit relativ geringem technischem Aufwand erstellte „flache“ Rekonstruktion schnell wie eine digitale Laubsägearbeit von vorgestern. Zankers Forderung ist hier übererfüllt: Wo alles bis ins letzte Detail ausgeführt ist, bleibt kein Raum mehr für die eigene Vorstellungskraft und historische Imagination.

Apropos vorgestern. Ihrem Ergebnis nach stellt die aktuelle Entwicklung eine Rückkehr zur Rekonstruktionsfreude des 19. Jahrhunderts dar. Die prachtvollen Aquarell-Zeichnungen, die französische Architekten als Träger des Prix de Rome in Griechenland herstellten, oder die großen Panoramen von Pergamon, Olympia und anderen Grabungsstätten gehören einer Epoche an, die untergegangen war und jetzt tatsächlich wiederaufzuerstehen scheint. Auch wenn sie den Mitteln nach völlig verschieden sind, knüpfen 3D-Rekonstruktionen von heute, was die Art der realistischen oder sogar illusionistischen Darstellung angeht, an Arbeiten vor mehr als hundert Jahren an. Aber sind auch die Impulse dieselben wie damals?
Benoit Loviot, Athen, Parthenon, Schnitt (1880)
Vermutlich kommen hier zwei Faktoren zusammen. Was technisch möglich und neu ist, wird, gleich in welchem Bereich, immer Verfechter finden, die diese moderne Technik auch anwenden wollen. Antike Bauten und Ruinenstätte stellen ein fast unbegrenztes Feld für die Veranschaulichung mit den seit etwa zwanzig Jahren zur Verfügung stehenden Mitteln dar. Im Bereich der populärwissenschaftlichen Vermittlung stellt dies ohne Frage eine volle Legitimation für die in der Regel kostspielige Erstellung von aufwendigen digitalen Rekonstruktionen dar. Für den Bereich Forschung gilt dies nicht, weshalb dort wieder und wieder, dabei aber selten mit überzeugender Begründung, der wissenschaftliche Mehrwert der Projekte herausgestellt wird, vermutlich nicht zuletzt mit Blick auf die Geldgeber, die das alles möglich gemacht haben.

Neben der ‚Eigendynamik‘ der neuen technischen Möglichkeiten als im Wesentlichen extrinsischem Faktor – auf academia.edu hat „Digital Archaeology“ deutlich mehr Interessenten als „Greek Sculpture“ – gibt es vermutlich aber auch einen starken intrinsischen Faktor. Zu den neuerdings aufblühenden Feldern in unserer Disziplin gehört die „Archäologie der Sinne“ – ich bin auf die Sensory Archaeology bereits in meinem Blog-Beitrag zur Ausstellung Divine Design eingegangen. Gerüchen, Geräuschen und dem Wechsel von visuellen Eindrücken in der antiken Stadt nachzugehen, wie es in einer ganzen Reihe neuerer Publikationen geschieht, bedeutet, sinnliche Wahrnehmung in ihrer elementaren Form zum Gegenstand der Forschung zu machen. Das eine wie das andere, die fotorealistische digitale Nachbildung von antiken Raumsituationen wie die Archäologie der Sinne, ist eine Feier der Oberfläche. Dies mit dem „Material Turn“ in Verbindung zu bringen (um noch einmal auf den Aufsatz von Monika Stobiecka Bezug zu nehmen), suggeriert Innovation, wo in Wirklichkeit vielleicht doch das Verlustkonto stärker ist als der Gewinn. Die sinnliche Präsenz hat im günstigen Fall ihre unmittelbare Überzeugungskraft. Ob sie zum Kerngeschäft der (Klassischen) Archäologie als einer Geisteswissenschaft, zur Beschäftigung mit Strukturen unter der Oberfläche und mit geistesgeschichtlichen Entwicklungen, einen substantiellen und dauerhaften Beitrag leisten kann, erscheint mir zweifelhaft. Wenn sich die Energie auf das Ausschöpfen der technischen Möglichkeiten richtet und zudem die Tendenz besteht, mit der Schaffung möglichst perfekter Nachbildungen die Distanz zum antiken Gegenstand zu verringern oder aufzulösen, dann geht der Fortschritt am Ende auf Kosten einer produktiven Spannung, aus der heraus neue Ideen und Interpretationen entwickelt werden.

Donnerstag, 29. März 2018

Zur Berliner Rekonstruktion der Laokoongruppe


Hinweis: Der Beitrag erscheint vorerst ohne Bilder, da das Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität keine Publikationsgenehmigung erteilt hat. Ich verweise deshalb auf https://www.welt.de/geschichte/article159477379/So-sah-das-groesste-Kunstwerk-der-Antike-wirklich-aus.html


Laokoon. Auf der Suche nach einem Meisterwerk, entstanden unter der Ägide von Susanne Muth in Verbindung mit dem Sonderforschungsbereich 644 Transformationen der Antike verfolgt zwei Ziele. Kernpunkt und Legitimation der Unternehmung ist eine neue Rekon­struktion des vatikanischen Laokoon. Sie wird in einer kleinen Ausstellung (mitverantwortet von Agnes Henning) präsentiert. Im umfangreichen Katalog gruppieren sich um die Rekonstruktionsfragen zahlreiche Beiträge eines großen Autorenkreises, die auf die unterschiedlichsten Aspekte der Erforschung und des Nachlebens der Statuengruppe eingehen und insgesamt ein umfassendes und sehr informatives Handbuch zum Thema darstellen. Hervorzuheben ist dabei die sorgfältige und instruktive Dokumentation zum antiken Bestand der Skulpturengruppe. Dabei, wie dann auch bei der Rekonstruktion des originalen Zustands, leistet die digitale Aufbereitung gute Dienste. Ausstellung und Katalog stellen auch eine schöne Gemeinschaftsaufgabe dar, bei der erfahrene Wissenschaftler und Nachwuchskräfte eines Universitätsinstituts und darüber hinaus umfassend kooperieren.


Die neue Rekonstruktion
Der Ertrag an neuer Forschung im eigentlichen Sinne ist relativ gering: Dass bei der Laokoongruppe der Kopf der oberen Schlange eventuell nicht an der linken Hüfte zu rekonstruieren ist, sondern am Kopf des Protagonisten, ist in den letzten Jahrzehnten schon mehrfach vertreten worden. Dieser Grundgedanke wird nun in neuer Ausprägung präsentiert, mit einer Doppelwindung des Reptils um den linken Arm des Laokoon, vor allem aber mit dem Kopf der Schlange direkt unter dem Ansatz des rechten Arms, so dass Laokoon seinen Kopf in einer spontanen Reaktion von der akuten Bedrohung abzuwenden scheint. Wich­tigstes Indiz für diesen Vorschlag ist die Anatomie der Schlangen. Doch die Beobachtungen an der besser erhaltenen unteren Schlange reichen nicht aus, um bei der oberen Schlange auch nur vorne und hinten wirklich zuverlässig zu bestimmen. Ich würde den neuen Vorschlag nicht rundweg verwerfen (wie Bernard Andreae in seiner etwas wirren Rezension: Gnomon 90, 2018, 74–79), doch scheint mir die materiale Grundlage zu schwach für ein bestimmtes Urteil und vor allem scheint mir der Realismus der Gruppe falsch verstanden.


Trotz des großen Aufwands bei der Beschreibung des Rekonstruktionsvorgangs und bei der im Katalog geleisteten Kontextualisierung wird eine wesentliche Frage nicht ausreichend thematisiert: Die Rekonstruktion ist geleitet von der Erwartung, in der Statuengruppe eine realistische Wiedergabe eines Angriffs von zwei Schlangen auf drei Menschen vor sich zu haben. Muth (und ihr Team) ist dabei von einem engen Realismusbegriff geleitet und will alle wesentlichen Elemente, also die Art des Angriffs der Schlangen wie auch die Art der Gegenwehr von Laokoon und seinen Söhnen, als genaue Übertragung einer realen Situation verstehen. Über die Frage, ob Laokoons Leiden echt ist (und ob er »schreit«), wird seit Winckelmann und Lessing gestritten. Ich vertrete die Seite der Forschung, die in der Statuengruppe eine zwar dramatische, aber recht artifizielle, schön in der Fläche ausgebreitete Komposition sieht, die ihre Wirkung auch durch die sehr realistischen Oberflächenformen erhält. Wenn man diese beiden Ebenen unterscheidet, dann erscheint es undenkbar, dass die energische Kopfwendung des Laokoon, in der die durch den ganzen Körper gehende Anspannung der Figur kulminiert, durch eine zuschnappende Schlange motiviert sein soll. Für den großen Mann und die monumental angelegte Statuengruppe ist das ein entschieden zu schwaches Motiv. Den drei berühmten rhodischen Bildhauern darf man zutrauen, dass sie mit den Möglichkeiten einer mimetischen Darstellungsweise gut und also sehr selektiv umzugehen wussten und dass sie bei ihrem zweiten archäologisch dokumentierten Werk, der Skyllagruppe in Sperlonga, diese Mittel auf andere Weise eingesetzt haben, indem nun nicht nur die Oberfläche, sondern auch die Aktion selbst sehr realistisch dargeboten wird.

Archäologische Forschung als dramatischer Prozess
Muth macht es mit der von ihr gewählten Zugangsweise und sprachlichen Form den Lesern im übrigen auch nicht ganz leicht, Vertrauen aufzubauen. Es herrscht ein befremdlicher Superlativismus vor, nach beiden Seiten hin: Einmal wird der – seit über 500 Jahren intensiv diskutierte – Gegenstand der Untersuchung in übertriebener Weise als unbekannt oder verkannt hingestellt, zum anderen der eigene Weg der Erschließung als raffinierte „Spurensuche“, als endlich stattfindende Beschäftigung „mit der Statue selbst“ (31) bezeichnet, und dann erweist sich das Werk als „genial“, das Können der Bildhauer als „geheime Meisterschaft“ und dergleichen. Das scheint eher der Dramaturgie eines Abenteuerfilms abgeschaut als an sorgfältiger archäologischer Methodik orientiert, zu der auch gehören würde, stets die Grenzen der eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu sehen. Zum wenig kontrollierten Optimismus ist auch zu rechnen, wenn Muth sich sehr direkt in den „antiken Betrachter“ hineinversetzt, als ließe sich die Distanz zum Gegenstand vollständig überwinden (S. 335–340).


Dass die neue Rekonstruktion sich durchsetzen wird, ist wenig wahrscheinlich; dafür fehlt als elementare Voraussetzung eine schlagende neue Beobachtung innerhalb des hoch­komplexen skulpturalen Befunds. Interessant sind aber die ersten Reaktionen. Im Katalog selbst warnt eine Stimme davor, den Bogen nicht zu überspannen. Stephan G. Schmid stellt nachdrücklich heraus, »dass nicht alle uns bekannten Puzzlestücke der klassischen Antike zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden können (und sollen)« (393; auch Anm. 22). Umgekehrt setzt sich Muths Superlativismus in der ungehemmten Begeisterung von zwei Beiträgen im Feuilleton großer Tageszeitungen fort. Fern jeder Realität meint Andreas Kilb (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.11.2016) zur neuen Rekonstruktion „Ganze Bibliotheken voller Laokoon-Deutungen fallen damit in sich zusammen“. Berthold Seewald (Die Welt vom 14.11.2016) redet im Titel seines Beitrags gleich vom „größten Kunstwerk der Antike“ und folgt anschließend nicht weniger unkritisch den Aussagen im Ausstellungskatalog, mitunter bis in die Formulierungen hinein. Solches Lob kann man schwerlich als Auszeichnung verstehen. Stattdessen zeigt sich darin einmal mehr die zwiespältige Popularität der Klassischen Archäologie: die Freude an der Sensation ersetzt die Auseinandersetzung mit der archäologischen Arbeitsweise und ihren Möglichkeiten und Grenzen. Dazu passt, dass die FAZ, anders als in früheren Jahren, in ihren Literaturbeilagen zwar noch neue anspruchsvolle Arbeiten aus der Kunstgeschichte vorstellt, schon lange aber nicht mehr Bücher zur antiken Kunst.


Mittwoch, 14. Juni 2017

Eine Klassische Archäologie der Sinne?

Zur Münchner Ausstellung Divine Design. Das Kleid der Antike


Die Münchner Antikenmuseen – die Antikensammlungen und insbesondere Glyptothek – blicken auf eine lange Serie von Ausstellungen zurück, in denen Arbeiten der Moderne und der Gegenwart in eine Verbindung mit Werken der Antike gestellt werden. Bei der im April 2017 eröffneten Ausstellung Divine Design. Das Kleid der Antike ist der Bezug auf griechische und römische Kunst denkbar direkt. Zwei Gruppen von Studierenden der Akademie Mode & Design (2 Männer und 24 Frauen: die Geschlechterpräferenzen sind eindeutig) stellten sich die Aufgabe, Gestaltungsformen antiker Kleidung – und von Nacktheit – als Ausgangspunkt und Anregung für eigene Arbeiten zu nehmen. So entstanden zwei Modekollektionen, die erste mit dem Titel Greek reset, eine Serie freier, meist sehr assoziativer Adaptationen antiker Skulpturen und einiger griechischer Vasen, die zweite, etwas neckisch als Pleats please bezeichnet, als Auseinandersetzung mit Faltenbildungen und Drapierungen.
Julia Wirleitner, Hephaistos
(Foto: Peter Schreiber BFF)

Die Entwürfe von Greek reset, von dem Fotografen Peter Schreiber in beeindruckender Weise in Szene gesetzt, ließen mehr Raum für kreatives Arbeiten als die andere Serie (und haben mich aus diesem Grund mehr angesprochen). Sie wirken aufgrund der großen Vielfalt der Schöpfungen ‚interessanter‘ und dabei, bei aller spielerischen Freiheit, die sich die angehenden Modedesigner genommen haben, durchgehend doch auch als sehr ernsthaft in der Beschäftigung mit den Werken der Antike. Manche eher konventionellen Entwürfe sprechen das Auge unter Umständen deshalb an, weil sie an vertraute Seherfahrungen anschließen (Pia Vollkommer: Amphore), andere Schöpfungen scheinen im ersten Augenblick weit weg zu sein von der Antike, stellen tatsächlich aber sehr eigenständige Verarbeitungen der Anregungen dar. Wenn sich Julia Wirleitner für ihre Kreation (Hephaistos) als Referenzobjekt die – nackte! – Statue des sog. Münchner Königs genommen hat, um ein hochgeschlossenes enges Kleid zu entwerfen, das mit einer vielgliedrigen Komposition aus Metallbändern versehen ist, dann wird auf elegante Weise ein doppelter Kontrast geschaffen, zwischen der Haut des Models und dem sich darüber legenden Gewand sowie zwischen dem weichen Stoff und dem harten Metall. Natürlich hängt die Messlatte für die studentischen Entwürfe sehr hoch. Viele große Modedesigner der letzten hundert Jahre und darüber hinaus haben sich intensiv mit Gewandideen und allgemeiner noch mit dem Schönheitsideal der Antike auseinandergesetzt, und die vielbeachtete New Yorker Ausstellung Goddess. The Classical Mode hat 2003 dieses Potential einem breiten Publikum sichtbar gemacht. An diese Schau knüpft man in München nicht nur mit dem Ausstellungstitel an.

Aber haben sich die Archäologen, die den zweiten, den wissenschaftlichen Teil der Ausstellung bestreiten, bei der Auseinandersetzung mit dem „Kleid der Antike“ von der Kreativität der Studierenden anstecken lassen? Die Antwort ist ein fast uneingeschränktes Nein. Von den dreizehn Texten des Katalogs sind nicht weniger als neun dem gewidmet, was in der Forschung zur griechischen Kleidung seit jeher als zentrale Aufgabe gilt: möglichst gute Sachkenntnis über Formen, Verwendung und Herstellung zu gewinnen. Nach dem Muster inzwischen schon zahlreicher Münchner Ausstellungen werden dafür sehr geschickt praktisch ausschließlich die Bestände der beiden Museen genutzt. Diese bewährte Art der Aktualisierung der eigenen Sammlung bringt allerdings auch eine massive Begrenzung mit sich: Um eine Geschichte der griechischen Kleidung zu skizzieren oder um herausragende gestalterische Phänomene zu beschreiben, wären auch viele Werke außerhalb des Münchner Bestands heranzuziehen gewesen. Eben damit ist jedoch ein kritischer Punkt berührt, denn über die Taxonomie, die systematische Sichtung und souveräne Ordnung des Wissensbestandes, wollte man offenbar nicht hinausgehen. Die sinnliche Qualität griechischer Kleidung mit allen Facetten, die zu diesem Thema gehören, bleibt in der wissenschaftlichen Bearbeitung fast völlig ausgespart, so dass sich die Texte über weite Strecken wie eine aktualisierte und durch die reiche Bebilderung sehr anschauliche Fassung des Buches von Anastasia Pekridou-Gorecki von 1989 lesen. Das ist willkommen und nützlich, aber kein Schritt auf neues Terrain.

Von den verbleibenden vier Texten verdienen drei eine eigene Würdigung. Ekkehart Baumgartner, Professor für Marketing, Kommunikation und Markenmanagement, lässt sich als einziger unter allen Autoren auf eine intensive ästhetische Würdigung eines antiken Werkes ein, des Grabreliefs für Mnesarete, ist dabei, da er sich weitgehend seinen subjektiven Eindrücken überlässt, allerdings entschieden mehr Poet als Wissenschaftler. Der Kunsthistoriker Philipp Zitzlsperger stellt den Realitätsgehalt antiker Kleidungsdarstellungen pauschal infrage, eine überzogene, nicht von guter Sachkenntnis geleitete Position, die von den übrigen Katalogautoren dann auch ignoriert wird. Von der Klassischen Archäologin Natascha Sojc konnte man erwarten, dass sie sich intensiv mit der gestalterischen Vielfalt griechischer Kleidung auseinandersetzt, zumal ihr Beitrag im Titel die Frage stellt „Mode, in der Antike?“ Doch auch sie geht nur wenig über Pekridou-Gorecki hinaus, die ihrer Monografie zwar den Titel Mode im antiken Griechenland gegeben hat, das Hauptstichwort ihres Buchtitels aber fast völlig übergeht. Sojc erkennt Freiräume der Gestaltung und verbindet diese nachdrücklich mit dem vagen Stichwort der „Selbstinszenierung“. Doch unklar bleibt dabei schon, ob sie die Freiräume den Frauen als Akteurinnen des sozialen Lebens mit ihrer tatsächlich getragenen Kleidung zuschreibt oder doch eher der Meta-Ebene der künstlerischen Darstellung. Die Unbestimmtheit setzt sich in der Sprachform fort, wenn sie die beschriebenen Phänomene zwar explizit nicht „als Mode im Sinne unseres heutigen … Begriffs“ bezeichnen möchte, gleichwohl aber ohne nähere Reflexion Termini wie „modisch“ oder „das Modische“ verwendet (wie auch Astrid Fendt in einem Beitrag von „modischen Elementen …, die sich innerhalb kurzer Zeit veränderten“ spricht). In unserem Buch Helenas Töchter. Frauen und Mode im frühen Griechenland von 2015, das Sojc übergeht, sind Sina Tauchert und ich diesem Aspekt der Kleidung als ästhetischem Phänomen wie den Möglichkeiten der Anknüpfung an gesellschaftliche Gegebenheiten intensiv nachgegangen. Manches davon findet sich in vereinfachter Form und ohne klare Referenz im Katalog wieder.

„Inspiration zum Dialog“ ist der erste Teil des Katalogs treffend überschrieben, bestand doch die zentrale Idee der ganzen Unternehmung darin, einen Dialog über einen sehr gegenwärtigen Gegenstand zwischen dem Heute und einer weit zurückliegenden Epoche anzustoßen. Aber warum hat die Inspiration trotz der ungewöhnlich günstigen Ausgangslage die Wissenschaftler nicht erreicht?

Der griechischen Kunst und insbesondere der Plastik eine besondere Schönheit zuzuschreiben, gehörte seit der Entstehung des Klassischen Archäologie im 18. Jahrhundert zu den Grundannahmen nicht nur der populären, sondern auch der wissenschaftlichen Beschäftigung. Eine lange Reihe von Publikationen, die mit großem sprachlichem Aufwand die formale Qualität nachzuschöpfen versuchen, zeugt vom Bemühen um die gelehrte Annäherung an die am Ende nicht objektivierbare Kategorie der Schönheit. Mit der sozialgeschichtlichen Wende seit den 1960er Jahren ist das Interesse an der Auseinandersetzung mit der sinnlichen Seite des Gegenstands weitestgehend verloren gegangen und traten andere Perspektiven in den Vordergrund. Bis heute erweist sich ein breites Spektrum an soziologischen Fragen (Rollenbilder, Statusfragen, Gender) als ergiebiges Aufgabenfeld. Diesem Trend folgen auch mehrere Beiträge im Katalog der Münchner Ausstellung, ebenso wie Mireille Lee in ihrer kürzlich erschienenen Monografie Dress, Body, and Identity in Ancient Greece (New York 2015).
Metope aus dem Heraion am Sele bei Poseidonia-Paestum
(Foto: DAI Rom)

Vielleicht ist es als Zeichen einer gewissen Sättigung mit immer differenzierterer Bestandssicherung und fortschreitender soziologischer Analyse zu werten, wenn sich neuerdings Impulse regen, eine veritable Archäologie der Sinne zu entwickeln. Im angelsächsischen Sprachraum ist Sensory Archaeology bereits zu einem Schlagwort geworden, und eine Reihe von Publikationen zeugt davon, dass dieses Feld beginnt, sich ins Zentrum der archäologischen Disziplinen hinein zu erstrecken, siehe u.a. Jo Day (Hrsg.), Making Senses of the Past. Toward a sensory archaeology (Carbondale 2013); Y. Hamilakis, Archaeology and the Senses. Human Experience, Memory, and Affect (Cambridge 2014); M. Squire (Hrsg.), Sight and the Ancient Senses (London 2016). Ob der Funke auch auf die deutsche Klassische Archäologie überspringt, muss sich noch zeigen. Vermutlich ist es auch nicht glücklich, gleich eine neue „Archäologie“ auszurufen, die am Ende wie die „Bildwissenschaft“ ein so weites Gebiet umfasst, dass die dort Aktiven kaum zu gemeinsamen Themen und gemeinsamer Sprache finden. Die Berechtigung einer neuen Perspektive, die versucht, möglichst umfassend Sinneswahrnehmungen zu erfassen, steht meines Erachtens aber außer Frage, und gerade die griechische Kleidung könnte dafür ein guter Testfall sein. Es handelt sich um ein komplexes sinnliches Phänomen und für seine Erforschung steht eine weite Spanne an Zeugnissen zur Verfügung. Jenseits der Realienerschließung geht es, ausgehend von den archäologischen Quellen, etwa um das Zusammenspiel der Oberflächen von Körper und Textilien, um die Spannung zwischen den Texturen der Gewänder, um die Kombination mit Accessoires aus unterschiedlichen Materialien wie Stoff und Metall und um das Zusammenspiel der Kleidung mit Frisuren, um Sinneseindrücke des bekleideten Körpers in Bewegung. Die schriftlichen Zeugnisse erlauben, weitere Bereiche sinnlicher Wahrnehmung hinzuzunehmen, die bei festlichen Anlässen gespielte Musik und auch die Düfte, die mit Menschen und Orten verbunden waren, dies alles zudem verknüpft mit der Dimension der historischen Veränderung, die man im Einzelfall „Mode“ nennen kann. Der scheinbare Nachteil, dass solche Forschung nicht ohne ein evidentes Maß an Spekulation auskommt, wird leicht ausgeglichen durch ihr anthropologisches Potential: Die Parallelen zu unserer eigenen Erlebniswelt sind ebenfalls evident, die Unterschiede in der antiken Praxis festzustellen wäre eine schöne Herausforderung.