Montag, 5. Mai 2014

Die Bildnisse des Tiberius (Wiesbaden 2013): Porträtforschung zwischen Kenner- und Naturwissenschaft


Vor mehr als siebzig Jahren, 1939, erschien der erste Band der Reihe Das römische Herrscherbild. Die Serie steht in einer Tradition der deutschen Klassischen Archäologie, die bis in das 19. Jahrhundert zurück reicht und bis in die Gegenwart stark geblieben ist. Ziel solcher Corpuswerke ist es stets, wichtige Denkmälergruppen in systematischer Form in Sprache und Bild zu dokumentieren und zu klassifizieren und sie damit der Forschung für alle denkbaren weiterführenden Fragen zur Verfügung zu stellen. Je nach Konzept der einzelnen Reihe legen die Autoren der Bände auch selbst Interpretationen des Gegenstands vor – wie dies auch für die Serie zu den Porträts römischer Kaiser gilt. Die verschiedenen Corpuspublikationen mit ihrer strengen Systematik und ihrer meist ausgezeichneten Bildausstattung haben, so eine gängige Vermutung, wesentlichen Anteil daran, der deutschen Sprache in der internationalen klassisch-archäologischen Forschung das Leben zu verlängern.
 

Porträt des Tiberius. Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek 623.

Nach Abguss Rom, Museo dell‘Ara Pacis
Genau fünfzig Jahre nach dem ersten Band markiert die Vorlage der Porträts des Caligula von Dietrich Boschung mit erweiterten Ansprüchen an Dokumentation und Methode den Beginn neuen Kapitels. Nun werden möglichst alle erhaltenen Stücke von allen vier Seiten abgebildet, da für die Einordnung der einzelnen Köpfe Gestaltungseigenheiten auch auf den Seiten und der Rückseite von Bedeutungsein können. Und es wird ein neuer Weg zur Annäherung an das ‚Urbild‘ einer Porträt­schöpfung eingeschlagen, indem unter den Repliken eines Typus jeweils eine „Kerngruppe“ isoliert wird, deren Mitglieder sich durch starke Übereinstimmungen insbesondere der Haaranlage über der Stirn zusammenschließen. Diese Kerngruppe, so die Annahme, steht dem Entwurf, den der Kaiser als sein offizielles Bildnis in Umlauf bringen ließ, jeweils am nächsten. Zugleich ist die Kerngruppe der Referenzpunkt, um die gestalterischen Abweichungen der übrigen Stücke zu bestimmen und daraus Rückschlüsse über den Prozess der Verbreitung des kaiserlichen Porträts von der Hauptstadt Rom in die mit der Vervielfältigung beauftragten Werkstätten in Italien und im gesamten Reichsgebiet zu ziehen.
 
Vor kurzem erschien nun der dritte Band in der neuen Ära der Publikationsreihe: Dieter Hertel über die Bildnisse des Tiberius. Die drei Herausgeber haben dem neuen Werk ein ungewöhnlich skeptisches Vorwort mitgegeben, das in auffälligem Kontrast zu der Freude steht, die normalerweise mit der Vorlage einer viele Jahre lang in Arbeit befindlichen Monographie verbunden ist. Technische Probleme werden beklagt, „die Kommerzialisierung der Fotoabteilungen an den meisten Museen“ treibe die Kosten in die Höhe, und rechtliche Hürden ergäben sich durch „das immer kompliziertere und rigoroser gehandhabte Copyright-Wesen“. Bedrohlicher aber hören sich die Bemerkungen über Widerstände gegen das wissenschaftliche Konzept an: „Vermutlich wirkt auch das umständliche und zeitraubende Verfahren einer Kopienrecensio abschreckend“ – gibt es heute also keine Klassischen Archäologen mehr, die bereit sind, einige Jahre ihres Lebens für eine im Kern dienende Aufgabe im Rahmen der Grundlagenforschung aufzuwenden? Besonders aber irritiere prinzipielle, vor allem in der anglo-amerikanischen Forschung geäußerte Kritik an der „typologischen Methode“. Mit dieser Kritik an der auf akribischer Beobachtung beruhenden Methodik der Unterscheidung verschiedener Porträttypen hat sich der Herausgeber Klaus Fittschen schon früher auseinandergesetzt (in: B. C. Ewald – C. F. Norena (Hrsg.), The Emperor and Rome. Space, representation, and ritual (Cambridge 2010) 223-6) und den Kritikern entgegengehalten, dass sie keine substantiellen Argumente und vor allem kein alternatives Konzept für die Erschließung und Analyse römischer Kaiserporträts besäßen.
 
Tatsächlich ist der Wert der Kopienkritik, des Herzstücks der typologischen Methode, unbestreitbar. Nur durch die sorgfältige vergleichende Betrachtung sämtlicher relevanter Stücke – rundplastisch wie im Münzbild – ist es möglich, die Unterscheidungen zu treffen, die den Ausgangspunkt für die ‚höheren Fragen‘ der historischen Analyse darstellen: die Unterscheidung von Bildnissen von Kaisern und von ‚Privatleuten‘, die stark an erstere angelehnt sind, die Unterscheidung der verschiedenen Porträtschöpfungen eines Kaisers sowie die Unterscheidung von Stücken, die dem Ausgangsentwurf nahestehen, und solchen, die sich weiter davon entfernen.
 
Dass die Kritik an der typologischen Methode und ihren evidenten Erfolgen bei der Erforschung der römischen Kaiserporträts vage bleibt, hat seinen Grund wohl darin, dass es gar nicht darum geht, ihre wissenschaftliche Solidität in Zweifel zu ziehen, sondern dass Publikationen wie Die Bildnisse des Tiberius einen relativ hermetischen Charakter haben. So sehr die Methodik auch nachvollziehbar dargestellt ist, mit Lockenschemata zu allen irgendwie relevanten Köpfen, so offenkundig ist es doch für die Benutzer solcher Werke, dass sie, wenn sie nicht sehr viel Zeit aufwenden, nicht in der Lage sind, die Ergebnisse zu überprüfen. So gerät man schnell in die Lage, dem Autor einfach glauben zu müssen, und befindet sich damit am Rande der etablierten Grenzen wissenschaftlicher Tätigkeit. Es passt auch ins Bild, wenn die sorgfältige Rezension des Bandes durch Frank Hildebrandt auf nicht weniger als 19 Seiten Umfang kommt.
 
Anders ausgedrückt: Die Leser sind mit einem eigentümlichen Paradoxon konfrontiert. Die bis ins kleinste Detail reichende Untersuchung der formalen Gegebenheiten, die zu den eben aufgezählten Unterscheidungen führt, nähert sich der naturwissenschaftlichen Herangehens­weise an. Denn wenn die Zahl der erhaltenen Köpfe ausreichend groß ist, dann erlaubt die typologische Methode, den Prozess der Diffusion eines künstlerischen Konzepts – des wohl jeweils vom Kaiser oder seiner nächsten Umgebung autorisierten ‚Urbildes‘ einer Porträt­schöpfung – von der Hauptstadt Rom bis an die Grenzen des riesigen Territoriums zu beleuchten. Es wird ein fast technischer Vorgang sichtbar, in dem man Gradationen der Abweichung vom Ausgangsentwurf feststellen und, um es bewusst wieder sehr technisch auszudrücken, Mechanismen der „römischen Kunstindustrie“ beschreiben kann.

Lockenschema des oben abgebildeten Kopfes.

Abbildung aus dem besprochenen Band
Dieser außerordentlichen Exaktheit in der Erfassung eines künstlerisch-technischen Phänomens steht die beinahe unmögliche Anforderung gegenüber, die Ergebnisse zu verifizieren oder, naturwissenschaftlich gesprochen, das Experiment nachzuvollziehen. Unvermeidliches Resultat dieses Gegensatzes ist ein gewisses Unbehagen: man kann die Ergebnisse der Porträtanalyse konstatieren, ihnen aber nicht oder nur mit größtem Aufwand widersprechen und also mit dem Autor in einen Dialog treten. Er und nur er ist, nach Jahren „zeitraubender“ Tätigkeit, Kenner der Materie, (fast) alle anderen nehmen zur Kenntnis, was diese Tätigkeit erbracht hat.
 
Eine solche Crux ist nichts Ungewöhnliches in der Klassischen Archäologie. John D. Beazleys „Vermeisterung“ der attischen Vasenmalerei gehört, auch wenn der Gegenstand und die Art der Darstellung durch den Autor sehr verschieden sind, in dieselbe Kategorie: An der Richtigkeit des Verfahrens gibt es keine grundlegenden Zweifel, woran auch Detailkritik an manchen Ergebnissen nichts ändert. Beazley hat allerdings, nachdem er seine Methode in einigen frühen Schriften in exemplarischer Form erläutert hatte, auf einen wissenschaftlichen Nachweis für den größten Teil seiner Ergebnisse verzichtet und damit das Kennerschaftliche seines Vorgehens offenkundig gemacht. Für seine Lebensleistung der Klassifizierung der attischen Vasenmaler und ihrer Werkstätten gilt wesentlich ausgeprägter noch als für Das römische Herrscherbild, dass der Erfolg der Methode zugleich ihr großes Problem ist. Wer sich nicht näher mit der Materie befasst, flüchtet sich in unreflektierte Kritik am „Lockenzählen“ und dergleichen, wer sich näher damit befassen möchte, wird schnell ein Unbehagen aufgrund der schweren Zugänglichkeit der Ergebnisse verspüren. Zum Paradoxon gehört dann auch, dass die leider sehr in die Defensive geratene Formanalyse, vor wenigen Jahrzehnten noch ein zentrales Feld der Klassischen Archäologie, auf dem sie gegenüber den Nachbardisziplinen ihre Stärke ausspielen kann, mit Arbeiten wie der zu den Bildnissen des Tiberius nicht in der Lage sein wird, verlorenes Terrain wiederzugewinnen.