Montag, 22. Februar 2016

Form und Farbe. Bemerkungen zur Polychromieforschung


Das Wintersemester ist vorüber, ein Seminar zur Polychromie abgeschlossen. Ich komme zu dieser Thematik von meinem Forschungsinteresse an der archaischen Plastik her und hatte mich gefragt, was die neueren Untersuchungen zur Farbfassung der Skulpturen für das Verständnis der Statuen insgesamt erbracht haben. Das Forschungsfeld ist attraktiv und dynamisch, keine Frage: Es sind in den letzten zwanzig Jahren an zahlreichen Stücken die Farbreste erstmals dokumentiert und analysiert worden und es gibt viele neue Beobachtungen an schon länger diskutierten Werken. Zudem hat die seit 2003 in vielen Städten im In- und Ausland gezeigte Ausstellung „Bunte Götter – Die Farbigkeit antiker Skulptur“, mit der Vinzenz Brinkmann und mit ihm viele andere Forscher die Ergebnisse der Polychromieforschung anhand von kolorierten Abgüssen für ein größeres Publikum anschaulich machen, der Klassischen Archäologie als Disziplin Aufmerksamkeit verschafft. Aber gewinnt das Fach auch substantiell durch diese Anstrengungen? Wie stark wirken die Polychromieuntersuchungen in die etablierte Forschung hinein?

Die Popularisierung des Themas erfolgt mit großem Nachdruck und sie scheut auch nicht immer vor Übertreibungen zurück. „White Lies“ war eine Fassung der Ausstellung „Bunte Götter“ überschrieben, in Anspielung auf den angeblich erbitterten Widerstand von Wissenschaft und Öffentlichkeit, die Praxis der Kolorierung antiker Statuen zur Kenntnis zu nehmen. Tatsächlich werden hier mit umstürzlerischem Eifer offene Türen eingerannt. Über eine 2010 produzierte Dokumentation berichtet der Hessische Rundfunk auf seiner Website: „Der Film räumt auf mit der Vorstellung, die Antike sei marmorweiß gewesen – sie war kreischend bunt“, was freilich alle am Thema Interessierten seit dem 19. Jahrhundert wissen. Angekündigt wird mit dem Beitrag eine „schockfarbene Antike“, „verblüffende PopArt“, um dann kulturkritisch mit der Frage fortzufahren, ob wir das wissen wollen „Oder verletzt es die Gefühle, die bisherige Auffassung von abendländischer Kultur?“ Nein, das Einzige, was hier verletzt, ist der enthemmte sprachliche Superlativismus.

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Im Vergleich zu solchen Sensationsankündigungen offenbart ein Blick in aktuelle wissenschaftliche Publikationen ein anderes Bild. In freudig-spöttischem Ton schreibt Olga Palagia: „The ghosts of painted patterns on marble have been imaginatively recreated on plaster casts with the addition of gaudy colours, which may or may not reflect the original pigments, but at least introduce the modern viewer to a new conception of colourful statuary, as opposed to the neo-classical ideal of white marble” (in: Greek sculpture, Archaic, Classical & Hellenistic: new finds and developments 2005–2015, Archaeological Reports, 61, 2015, 111). In der bemerkenswerten Sequenz von englischsprachigen Handbüchern zur griechischen (oder antiken) Kunst (oder Plastik) haben die Forschungen von Brinkmann und anderen nur einen schwachen Niederschlag gefunden. Die Publikationen von Tyler Jo Smith und Dimitris Damaskos (A companion to Greek art, 2012), Clemente Marconi (The Oxford handbook of Greek and Roman art and architecture, 2015) und Judith M. Barringer (The Art and Archaeology of Ancient Greece, 2015) gehen mit nicht mehr als ein paar Zeilen auf das Thema ein. Einzig Nigel Spivey, Greek Sculpture (2013) hat einen eigenen Abschnitt zur Statuenpolychromie, der die Forschungsgeschichte von den Anfängen bis heute skizziert, aber auch auf den kleinen Seitenhieb nicht verzichtet, manche modernen Nachschöpfungen seien „hideous to behold“ (83). Die Begleitpublikation zur Ausstellung „Archaic Colors“ in Athen (2012) nimmt auf diskrete Weise eine reservierte Haltung ein: Es werden viele Originalwerke mit ihren Farbresten abgebildet, aber keine einzige Rekonstruktion.

Der Grund für Skepsis und Misstrauen wird in vielen Fällen ein gleichsam technischer Aspekt sein: Wer Skulpturen ‚nur‘ mit seinen Augen untersucht und mit den traditionellen Methoden zu Ergebnissen kommt, der kann die Ergebnisse der Polychromieforschung nicht überprüfen, sondern nur glauben. Abhängigkeit der geisteswissenschaftlichen Arbeit von naturwissenschaftlichen Ergebnissen gibt es zwar auch auf vielen anderen Feldern der Archäologie (Metallzusammensetzung, Tierknochenanalyse u.v.m.). Hier aber ist ein ‚bildgebendes Verfahren‘ nicht nur ein Hilfsmittel der Erforschung, sondern das Ergebnis der ästhetischen Analyse selbst.

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Aber nicht nur der Blick von außen ist gespalten, sondern auch die Einschätzungen der Akteure selbst. Die Arbeiten von Brinkmann und seinem Team leben stark von der Simulation, vom Anspruch, das originale Kolorit der (archaischen) Statuen möglichst authentisch wiederzugewinnen. So heißt es in einer der letzten Ausgaben des Katalogs zur Ausstellung „Bunte Götter“ zur Rekonstruktion von ursprünglichen Farbwerten: „... die Abweichung zwischen dem originalen antiken Farbton und dem der modern aufbereiteten Naturpigmente und Farbstoffe beträgt weniger als 4 nm, sie ist mit dem menschlichen Auge nicht mehr wahrnehmbar“ (V. Brinkmann – U. Koch-Brinkmann, Die Gewänder der Frauen, in: Bunte Götter. Katalog Wien 2012, 29). Häufiger aber sind die zurückhaltenden oder ausdrücklich skeptischen Äußerungen. So schreibt J. S. Østergaard: „The scholars responsible for the reconstructions and simulations explicitly do not claim thus to restore the aesthetic quality and craftmanship of the original“, und weiter zur archaischen Zeit im Besonderen: “we have a long way to go before we will truly understand the polychromy of this epoch” (The Polychromy of Antique Sculpture: A Challenge to Western Ideals?, in: V. Brinkmann – O. Primavesi [Hrsg.], Circumlitio. The Polychromy of Antique and Medieval Sculpture [München 2010] 87. 89).

In der großen Differenz zwischen den beiden Aussagen wird etwas von der Problematik der aktuellen Polychromieforschung zur archaischen Plastik spürbar. Es ist durchaus zweifelhaft, ob man sich über die Popularität des Gegenstands freuen darf. Das – hier nur angedeutete – sensationalistische Element in der Berichterstattung geht zusammen mit der bei archäologischen Ausstellungen zu beobachtenden Tendenz, das Publikum mit möglichst spektakulären Titeln anzulocken, was man, wenn es offenbar solcher Lockmittel bedarf, wohl als Krisensymptom für das Fach als wissenschaftliche Disziplin ansehen muss. Unglücklich ist auch ein weiterer Punkt. Auch wenn es viele Stimmen gibt, die auf die unüberwindlichen Schwierigkeiten einer exakten Rekonstruktion hinweisen, weil sich die Intensität des Farbauftrags nicht präzise bestimmen lässt oder weil sich die Wirkung der Pigmente je nach eingesetztem Bindemittel stark unterschieden haben kann, so lebt das dreidimensionale Rekonstruieren, wie es in den Ausstellungen präsentiert wird, doch ganz vom Anspruch des Authentischen. Kehrt man damit nicht auf neuen Pfaden zu einer – in der Polychromieforschung gerne kritisierten – klassizistischen Perspektive zurück, indem perfekte Nachahmung und unbedingte Anschauung zum eigentlichen Ziel der wissenschaftlichen Arbeit werden?


Die Diskussion über die Möglichkeiten und die Grenzen der Polychromieforschung zur archaischen Plastik kommt an einem simplen Faktum nicht vorbei: Die Überlieferung erlaubt zwar, eine umfassende und differenzierte Geschichte der plastischen Form zu schreiben, für den Farbeinsatz ist dies aber nicht möglich und wird es wohl nie möglich sein. Die Erfolge bei Einzelbefunden stehen in einem ernüchternden Kontrast zu den engen Grenzen, die einer wirklichen Entwicklungsgeschichte der Polychromie gesetzt sind. Aber welche neuen Möglichkeiten ergeben sich? Zu fragen ist, inwiefern durch die erweiterte Kenntnis des Farbeinsatzes das Verständnis der archaischen Plastik als ästhetisches Phänomen insgesamt verbessert werden kann, oder, etwas eingegrenzter formuliert: Inwiefern ist auch die plastische Form besser zu verstehen, wenn man die Praktiken des Farbeinsatzes stärker berücksichtigt? Dabei ist vor allem an das Nebeneinander von nicht-mimetischer Gesamtanlage der Figuren und realistischen Details zu denken, das für die Analyse der archaischen Plastik schon immer eine besondere Herausforderung dargestellt hat. Dazu abschließend zwei Beispiele, jeweils als Frage formuliert.
Die Raffinesse der fein geschichteten Gewänder der Cheramyes-Koren auf Samos (Abbildung oben) scheint darauf angelegt zu sein, auf virtuose Weise den Eindruck von Dreidimensionalität zu erreichen. Aber wurde auf eine deutliche plastische Absetzung der Flächen vielleicht deshalb bewusst verzichtet, weil der Bildhauer bei der Konzeption seiner Arbeit die Möglichkeiten der effektiven Differenzierung der Gewänder mittels des Farbeinsatzes einkalkuliert hat?

Bei vielen Akropoliskoren weisen der obere Chitonteil und der unter dem Mantel hervorkommende untere Teil so unterschiedliche Oberflächengestaltungen auf, dass man auf die Idee verfallen ist, die Figuren würden „Rock und Top“ tragen und nicht ein durchgehendes Textilstück. Der Farbeinsatz scheint diese Annahme nicht selten noch zu stützen, wenn der obere Teil anders gefasst ist als der untere. Tatsächlich fordert der Befund dazu heraus, die Erwartungen  an Wiedergabetreue zu überprüfen: Prächtigkeit der Gesamtwirkung war das Ziel, dem „Realismus“ der Darstellung  in dem einen Detail dienlich war, im anderen nicht. Und wenn bei der Gestaltung der plastischen Form offenkundig viele „Fehler“ gegenüber der tatsächlichen Erscheinung von Körper und Gewand akzeptiert worden sind, gilt das dann auch für die Farbe, d.h. entsprechen die auf den Marmor aufgetragenen Farben denen der aus dem Alltag vertrauten Textilien oder hat man auch hier auf Authentizität im modernen Sinn keinen Wert gelegt und auf dem Stein das verwirklicht, was mit den gegebenen Materialien (Marmor, Pigmente, Bindemittel) mit gutem Effekt zu realisieren war?




 
Abbildungen
Farbrekonstruktion der Akropoliskore Nr. 675 (sog. Chioskore) von V. Brinkmann und Team (Foto: http://www.stiftung-archaeologie.de/)
Farbrekonstruktion der Akropoliskore Nr. 682  von B. Schmaltz (Foto: B. Schmaltz, vgl. Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 124, 2009, 75–134; vgl. https://www.klassarch.uni-kiel.de/de/forschung/skulptur-relief/polychromie-archaischer-plastik)
Von Cheramyes in das Heraheiligtum von Samos gestiftete Kore, Samos, Museum (Foto: Deutsches Archäologisches Institut, Athen, Neg. D-DAI-1985/479, R. Rehm )