Montag, 9. Juni 2014

Nikolaus Himmelmann (1929–2013) und die Frage „Was bleibt?“


In den jetzt schon fernen Tagen um Weihnachten habe ich aus der Presse vom Tod von Nikolaus Himmelmann und von dem gleichsam galaktischen Absturz des Kunsthistorikers Horst Bredekamp erfahren. Bredekamp hatte, unterstützt von einem Forscherteam, die Handzeichnungen, die in einem 2005 bekannt gewordenen Exemplar von Galileis Schrift Sidereus Nuncius (1610) enthalten waren, für eigenhändige Zusätze des großen Gelehrten gehalten und ein Forschungsnetzwerk geschaffen, um die Analyse dieser Zeichnungen in großem Maßstab zu betreiben. 2012, fünf Jahre nach der ersten, vielbeachteten und ‑gelobten Publikation zum Thema, kamen – weit außerhalb der Forschergruppe – ernstzunehmende Zweifel an der Authentizität auf, die erst abgewehrt wurden und Sache weniger Experten blieben, seit Ende 2013 schließlich aber auch in Deutschland Gegenstand der öffentlichen Diskussion waren. Man hatte mit großem personellem und materiellem Aufwand einen Pseudo-Galilei des späteren 20. Jahrhunderts erforscht.

Himmelmann und Bredekamp verbindet einiges: Ideenreiche, produktive Gelehrte, die früh ihre eigenen intellektuellen Wege gingen und auch, als Zeichen der Anerkennung ihrer großen Leistung, früh im akademischen Betrieb etabliert waren. Interessanter ist, was die beiden Wissenschaftler trennt. Bredekamp (geb. 1947) entwickelte sich in Richtung Großforscher, der sein Fach neu zu definieren versucht, viele Preise erhält, auch im Ausland sehr präsent ist, umfangreiche Mittel einwirbt und bewegt. Er wird zum Prominenten weit über sein Fach hinaus; die Reaktionen der Kritiker reichen mitunter an Verehrung heran. Selbstkritik aufrechtzuerhalten ist in solcher Atmosphäre kein Leichtes.

Himmelmann war ein Prominenter für die Vertreter seines Faches – so auch für mich in den Studienjahren während der achtziger Jahre –, wohl aber nur wenig darüber hinaus, auch wenn er durchaus auch Aufgaben als „Wissenschaftsmanager“, wie man heute sagt, übernommen und bedeutende Ehrungen auch im Ausland erhalten hat. Aber der Habitus als Forscher blieb fast von den Anfängen bis zum Schluss seiner Tätigkeit im wesentlichen unverändert: Professor in Bonn, in 36 Jahren, wie berichtet wird, nie ein Vorlesungsthema wiederholt, also Semester für Semester als kontinuierlich Lernender ein neues Feld erschlossen, die zahlreichen Publikationen in ihrer äußeren Form stets äußerster Zweckhaftigkeit verpflichtet. Aufsatz reiht sich an Aufsatz, veröffentlicht in Fachzeitschriften oder, in langer Folge, als Akademieschriften. Selbst die in Buchform veröffentlichten, nie sehr umfangreichen Monographien behielten im Wesentlichen nach Themenstellung und Textduktus ihren Charakter als größere Ausätze. Ich weiß nicht, ob Himmelmann jemals einen Projektantrag geschrieben hat, vermutlich nicht. Einzig mit einer Ausstellung im Akademischen Kunstmuseum in Bonn 1989 ist er entschieden über den traditionellen Wirkungskreis des Fachwissenschaftlers hinausgetreten. Die bemerkenswerte Schau Herrscher und Athlet. Die Bronzen vom Quirinal und der dazu herausgebrachte Katalogband waren eine Unternehmung, die Spezialisten und interessierte Öffentlichkeit gleichermaßen ansprach.

Himmelmann blieb immer, wenn man diesen heiklen Ausdruck verwenden darf, reiner Wissenschaftler. Ein Erkenntnissucher, der sich ganz an dem traditionellen Ideal orientiert, die Resultate seiner Arbeit in konziser Form der – fachwissenschaftlichen – Öffentlichkeit mitzuteilen und sie damit ihrer potentiellen Wirkung zu überlassen. Er bewies seine Substanz durch das Erkennen von Fragestellungen, die exakte Beobachtung, die Vernetzung der archäologischen wie der schriftlichen Quellen zu einer dichten Argumentation und durch die Weite der Forschungsfelder, auf denen er Ergebnisse vorlegte. Den Lesern hat er es nicht immer leicht gemacht. Die Forscherpersönlichkeit hat sich auch darin ausgesprochen, dass ein persönlicher Zugriff auf das jeweilige Thema immer spürbar war, mit der Konsequenz, dass der gedanklichen Bahn für den, der nicht dieselben Voraussetzungen und Perspektiven mitbringt, mitunter schwer zu folgen war. So faszinierend die Schriften, so “dunkel“ erschien doch bisweilen die Art der Darstellung. Zu Himmelmanns sympathischer Eigenwilligkeit gehörte aber auch, dass er eine Art Blogger ante litteram war. Als Beitrag zur Vermittlung seiner Forschungen und der Themen seines Faches gegenüber einer größeren Öffentlichkeit publizierte er in späteren Jahren eine große Zahl von kleineren Beiträgen in der Presse, vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die später unter dem Titel Minima Archaeologica (1996) als Buch erschienen.

In seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom schreibt Helmut Kyrieleis, Himmelmann habe „als Forscher und als Lehrer die klassische Altertumswissenschaft wie kaum ein anderer seiner Generation vorangebracht.“ Ein großes Wort und eine schöne Vorstellung. Aber war Himmelmann mit der von ihm betriebenen Klassischen Archäologie am Ende nicht etwas aus der Zeit gefallen? Das eine Feld, auf dem er sich bewegte (und auf das er viele Schüler führte), war die Formanalyse, also die Beschreibung, Klassifizierung und historische Interpretation von Kunstwerken, das andere antike Religions-, Sozial- und Ideen­geschichte, und nicht selten verband sich das eine eng mit dem anderen. Sein Impuls war nach meinem Verständnis stark humanistisch: die griechische und die vielfältig griechisch geprägte römische Welt als eine Sphäre, mit der man sich auseinandersetzt, um auch als Mensch der Gegenwart zu lernen. Das ist, soweit ich weiß, nirgends explizit ausgesprochen, für den Leser aber spürbar in der Intensität der Auseinandersetzung mit den großen Leistungen schöpferischer Tätigkeit der klassischen Antike und mit den Impulsen, die dahinter stehen.

Attisch-geometrisches Gefäß, 8. Jh. v.Chr. (Privatbesitz):
Gegenständliches Ornament
Doch inzwischen befinden sich die Klassischen Altertumswissenschaften in ihrer posthumanistischen Phase. In seinen verschiedenen Schriften zum griechischen Porträt stellt Himmelmann nachdrücklich die Tatsache heraus, dass es sich um Bildnis-Weihungen, handelt, mithin um religiös motivierte Stiftungen, während in der Forschung seit langem die sozialgeschichtliche Auswertung dieser Denkmäler die Diskussion dominiert. Seine Interpretationen kreisen dagegen um den Begriff der sophrosyne, Besonnenheit, überlegte, gottgefällige Lebensführung. Eine meiner Lieblingsschriften des Autors hat den denkbar nüchtern-deskriptiven Titel Über einige gegenständliche Bedeutungsmöglichkeiten des frühgriechischen Ornaments (1968). Es ist eine Art wahrnehmungspsychologische Studie, die gut begründet darlegt, dass manche scheinbar rein ornamentalen Gestaltungen tatsächlich benennbare Objekte der Erfahrungswelt angeben und die auf diese Weise gleichsam die Weltsicht der Menschen im 8. Jahrhundert v.Chr. partiell erschließt. Dass Himmelmann den Gegenstand in erweiterter Form bald vierzig Jahre später noch einmal behandelt (Grundlagen der griechischen Pflanzendarstellung, 2005), ist legitim, zugleich aber symptomatisch für die Ambivalenz seines Nachruhms.

Der Text aus dem Jahr 1968 ist heute so modern, wie er es bei Erscheinen vor mehr als vierzig Jahren war – oder ist es wieder. Denn der Ansatz, über die genaue, ‚qualitative‘ Betrachtung der Form, und zwar gerade auch der kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen, nicht nur Klassifizierungen und eine historische Kontextualisierung vorzunehmen, sondern auch etwas vom Geist und von den Leidenschaften der Epoche zu erfassen, und der Idealismus und die gesamte Perspektive eines Nikolaus Himmelmann sind wohl gerade den vielen jüngeren Archäologen und Studierenden leider fremd geworden. Vielleicht liegt es in der Natur einer idealistischen Haltung, dass der davon geleitete Wissenschaftler seine Wirkung in erster Linie in seiner Zeit und im direkten Bezug zu Lesern und Hörern entfaltet.

Montag, 5. Mai 2014

Die Bildnisse des Tiberius (Wiesbaden 2013): Porträtforschung zwischen Kenner- und Naturwissenschaft


Vor mehr als siebzig Jahren, 1939, erschien der erste Band der Reihe Das römische Herrscherbild. Die Serie steht in einer Tradition der deutschen Klassischen Archäologie, die bis in das 19. Jahrhundert zurück reicht und bis in die Gegenwart stark geblieben ist. Ziel solcher Corpuswerke ist es stets, wichtige Denkmälergruppen in systematischer Form in Sprache und Bild zu dokumentieren und zu klassifizieren und sie damit der Forschung für alle denkbaren weiterführenden Fragen zur Verfügung zu stellen. Je nach Konzept der einzelnen Reihe legen die Autoren der Bände auch selbst Interpretationen des Gegenstands vor – wie dies auch für die Serie zu den Porträts römischer Kaiser gilt. Die verschiedenen Corpuspublikationen mit ihrer strengen Systematik und ihrer meist ausgezeichneten Bildausstattung haben, so eine gängige Vermutung, wesentlichen Anteil daran, der deutschen Sprache in der internationalen klassisch-archäologischen Forschung das Leben zu verlängern.
 

Porträt des Tiberius. Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek 623.

Nach Abguss Rom, Museo dell‘Ara Pacis
Genau fünfzig Jahre nach dem ersten Band markiert die Vorlage der Porträts des Caligula von Dietrich Boschung mit erweiterten Ansprüchen an Dokumentation und Methode den Beginn neuen Kapitels. Nun werden möglichst alle erhaltenen Stücke von allen vier Seiten abgebildet, da für die Einordnung der einzelnen Köpfe Gestaltungseigenheiten auch auf den Seiten und der Rückseite von Bedeutungsein können. Und es wird ein neuer Weg zur Annäherung an das ‚Urbild‘ einer Porträt­schöpfung eingeschlagen, indem unter den Repliken eines Typus jeweils eine „Kerngruppe“ isoliert wird, deren Mitglieder sich durch starke Übereinstimmungen insbesondere der Haaranlage über der Stirn zusammenschließen. Diese Kerngruppe, so die Annahme, steht dem Entwurf, den der Kaiser als sein offizielles Bildnis in Umlauf bringen ließ, jeweils am nächsten. Zugleich ist die Kerngruppe der Referenzpunkt, um die gestalterischen Abweichungen der übrigen Stücke zu bestimmen und daraus Rückschlüsse über den Prozess der Verbreitung des kaiserlichen Porträts von der Hauptstadt Rom in die mit der Vervielfältigung beauftragten Werkstätten in Italien und im gesamten Reichsgebiet zu ziehen.
 
Vor kurzem erschien nun der dritte Band in der neuen Ära der Publikationsreihe: Dieter Hertel über die Bildnisse des Tiberius. Die drei Herausgeber haben dem neuen Werk ein ungewöhnlich skeptisches Vorwort mitgegeben, das in auffälligem Kontrast zu der Freude steht, die normalerweise mit der Vorlage einer viele Jahre lang in Arbeit befindlichen Monographie verbunden ist. Technische Probleme werden beklagt, „die Kommerzialisierung der Fotoabteilungen an den meisten Museen“ treibe die Kosten in die Höhe, und rechtliche Hürden ergäben sich durch „das immer kompliziertere und rigoroser gehandhabte Copyright-Wesen“. Bedrohlicher aber hören sich die Bemerkungen über Widerstände gegen das wissenschaftliche Konzept an: „Vermutlich wirkt auch das umständliche und zeitraubende Verfahren einer Kopienrecensio abschreckend“ – gibt es heute also keine Klassischen Archäologen mehr, die bereit sind, einige Jahre ihres Lebens für eine im Kern dienende Aufgabe im Rahmen der Grundlagenforschung aufzuwenden? Besonders aber irritiere prinzipielle, vor allem in der anglo-amerikanischen Forschung geäußerte Kritik an der „typologischen Methode“. Mit dieser Kritik an der auf akribischer Beobachtung beruhenden Methodik der Unterscheidung verschiedener Porträttypen hat sich der Herausgeber Klaus Fittschen schon früher auseinandergesetzt (in: B. C. Ewald – C. F. Norena (Hrsg.), The Emperor and Rome. Space, representation, and ritual (Cambridge 2010) 223-6) und den Kritikern entgegengehalten, dass sie keine substantiellen Argumente und vor allem kein alternatives Konzept für die Erschließung und Analyse römischer Kaiserporträts besäßen.
 
Tatsächlich ist der Wert der Kopienkritik, des Herzstücks der typologischen Methode, unbestreitbar. Nur durch die sorgfältige vergleichende Betrachtung sämtlicher relevanter Stücke – rundplastisch wie im Münzbild – ist es möglich, die Unterscheidungen zu treffen, die den Ausgangspunkt für die ‚höheren Fragen‘ der historischen Analyse darstellen: die Unterscheidung von Bildnissen von Kaisern und von ‚Privatleuten‘, die stark an erstere angelehnt sind, die Unterscheidung der verschiedenen Porträtschöpfungen eines Kaisers sowie die Unterscheidung von Stücken, die dem Ausgangsentwurf nahestehen, und solchen, die sich weiter davon entfernen.
 
Dass die Kritik an der typologischen Methode und ihren evidenten Erfolgen bei der Erforschung der römischen Kaiserporträts vage bleibt, hat seinen Grund wohl darin, dass es gar nicht darum geht, ihre wissenschaftliche Solidität in Zweifel zu ziehen, sondern dass Publikationen wie Die Bildnisse des Tiberius einen relativ hermetischen Charakter haben. So sehr die Methodik auch nachvollziehbar dargestellt ist, mit Lockenschemata zu allen irgendwie relevanten Köpfen, so offenkundig ist es doch für die Benutzer solcher Werke, dass sie, wenn sie nicht sehr viel Zeit aufwenden, nicht in der Lage sind, die Ergebnisse zu überprüfen. So gerät man schnell in die Lage, dem Autor einfach glauben zu müssen, und befindet sich damit am Rande der etablierten Grenzen wissenschaftlicher Tätigkeit. Es passt auch ins Bild, wenn die sorgfältige Rezension des Bandes durch Frank Hildebrandt auf nicht weniger als 19 Seiten Umfang kommt.
 
Anders ausgedrückt: Die Leser sind mit einem eigentümlichen Paradoxon konfrontiert. Die bis ins kleinste Detail reichende Untersuchung der formalen Gegebenheiten, die zu den eben aufgezählten Unterscheidungen führt, nähert sich der naturwissenschaftlichen Herangehens­weise an. Denn wenn die Zahl der erhaltenen Köpfe ausreichend groß ist, dann erlaubt die typologische Methode, den Prozess der Diffusion eines künstlerischen Konzepts – des wohl jeweils vom Kaiser oder seiner nächsten Umgebung autorisierten ‚Urbildes‘ einer Porträt­schöpfung – von der Hauptstadt Rom bis an die Grenzen des riesigen Territoriums zu beleuchten. Es wird ein fast technischer Vorgang sichtbar, in dem man Gradationen der Abweichung vom Ausgangsentwurf feststellen und, um es bewusst wieder sehr technisch auszudrücken, Mechanismen der „römischen Kunstindustrie“ beschreiben kann.

Lockenschema des oben abgebildeten Kopfes.

Abbildung aus dem besprochenen Band
Dieser außerordentlichen Exaktheit in der Erfassung eines künstlerisch-technischen Phänomens steht die beinahe unmögliche Anforderung gegenüber, die Ergebnisse zu verifizieren oder, naturwissenschaftlich gesprochen, das Experiment nachzuvollziehen. Unvermeidliches Resultat dieses Gegensatzes ist ein gewisses Unbehagen: man kann die Ergebnisse der Porträtanalyse konstatieren, ihnen aber nicht oder nur mit größtem Aufwand widersprechen und also mit dem Autor in einen Dialog treten. Er und nur er ist, nach Jahren „zeitraubender“ Tätigkeit, Kenner der Materie, (fast) alle anderen nehmen zur Kenntnis, was diese Tätigkeit erbracht hat.
 
Eine solche Crux ist nichts Ungewöhnliches in der Klassischen Archäologie. John D. Beazleys „Vermeisterung“ der attischen Vasenmalerei gehört, auch wenn der Gegenstand und die Art der Darstellung durch den Autor sehr verschieden sind, in dieselbe Kategorie: An der Richtigkeit des Verfahrens gibt es keine grundlegenden Zweifel, woran auch Detailkritik an manchen Ergebnissen nichts ändert. Beazley hat allerdings, nachdem er seine Methode in einigen frühen Schriften in exemplarischer Form erläutert hatte, auf einen wissenschaftlichen Nachweis für den größten Teil seiner Ergebnisse verzichtet und damit das Kennerschaftliche seines Vorgehens offenkundig gemacht. Für seine Lebensleistung der Klassifizierung der attischen Vasenmaler und ihrer Werkstätten gilt wesentlich ausgeprägter noch als für Das römische Herrscherbild, dass der Erfolg der Methode zugleich ihr großes Problem ist. Wer sich nicht näher mit der Materie befasst, flüchtet sich in unreflektierte Kritik am „Lockenzählen“ und dergleichen, wer sich näher damit befassen möchte, wird schnell ein Unbehagen aufgrund der schweren Zugänglichkeit der Ergebnisse verspüren. Zum Paradoxon gehört dann auch, dass die leider sehr in die Defensive geratene Formanalyse, vor wenigen Jahrzehnten noch ein zentrales Feld der Klassischen Archäologie, auf dem sie gegenüber den Nachbardisziplinen ihre Stärke ausspielen kann, mit Arbeiten wie der zu den Bildnissen des Tiberius nicht in der Lage sein wird, verlorenes Terrain wiederzugewinnen. 
 
 

Freitag, 4. April 2014

Neues zur Athena-Marsyas-Gruppe des Myron. Wie moralisierend ist die griechische Kunst?

Im letzten Band des Archäologischen Anzeigers hat sich Volker Michael Strocka mit einem großen Stuckrelief in Ephesos beschäftigt (Band 2013/1, S. 85-94). Das wohl im späteren 2. Jahrhundert n.Chr. entstandene, 1973 bekannt gewordene Werk befindet sich an der Stirnwand der sog. Basilica privata von Hanghaus 2. Die Funktion des Raumes kann nur erschlossen werden; vermutlich diente er für Gelage und andere festliche Zusammenkünfte.
Das Relief ist stark beschädigt, doch lassen sich die Umrisse der vier Figuren noch gut ablesen. Außen befinden sich zwei Eroten, in der Mitte eine männliche und eine weibliche Figur. Aufgrund der Eroten wurden die beiden Protagonisten bisher als Liebespaar identifiziert, ohne dass sich die konkreten Benennungen überzeugend auf motivische Details stützen konnten. Strocka hat nun das, was zu erkennen ist, genauer angesehen und erkannt, dass Athena und Marsyas dargestellt sind, in einer freien Adaptation der hochklassischen Skulpturengruppe des Myron auf der Athener Akropolis. Eine glänzende Beobachtung und damit eine wichtige Erweiterung unserer Kenntnis der römischen Rezeption des klassischen Werks!
Ephesos, Hanghaus 2, sog. Basilica privata, Stuckrelief mit Athena und Marsyas
 (Foto: E. Rathmayr)
Sehr befremdlich sind dagegen die dann folgenden Bemerkungen zur Interpretation von Relief und Mythos. Das beginnt mit den Angaben zur einzigen Passage in der antiken Literatur, die sich mit der myronischen Gruppe befasst. Für diesen entscheidenden Satz des Augenzeugen Pausanias (1,24,1) legt Strocka eine neue Übersetzung vor. Athena „schlägt“ (paio) Marsyas, so wurde die Aussage des Pausanias immer übersetzt. Strocka dagegen liest „Athena stößt den Marsyas weg“, ohne Belege dafür anzugeben und ohne auf die Positionen der vor mehr als hundert Jahren begonnenen Diskussion zu diesem Satz Bezug zu nehmen. Wie beliebig dies ist, macht Strocka selbst deutlich, wenn er in einer Anmerkung einen weiteren Übersetzungsvorschlag macht („Athena stößt die Auloi weg“), die eine andere Auffassung der mythischen Handlung und eine andere Rekonstruktion der Skulpturengruppe verlangen würde.
Strocka hängt ausdrücklich der alten moralisierenden Vorstellung an: die hehre Göttin Athena würde – gleichsam als personifizierte Sittenstrenge – gegenüber Marsyas eine abwehrende Geste machen, um Distanz und Abscheu gegenüber dem Satyrn und der von ihm ausgeübten wilden Aulosmusik zum Ausdruck zu bringen. Eine der römischen Kopien der Athena des Myron widerspricht dieser Rekonstruktion (Replik Lancellotti). Die Statue wird kurzerhand als Umbildung eingestuft, damit sie sich Strockas Verständnis der Gruppe fügt. Dass ein Forscher, der seine Dissertation über ein Thema aus dem Bereich der Kopienkritik, der Analyse römischer Kopien zur Wiedergewinnung griechischer Originale, geschrieben hat, dieses Forschungsfeld durch ein solches Vorgehen de facto der Lächerlichkeit preis gibt, ist bemerkenswert.
Schließlich die Frage nach dem Sinngehalt, der hochklassischen Statuengruppe wie dann auch des Reliefs in Ephesos. Im Text von Strocka verfließen der kulturelle Kontext des einen und des anderen Werks völlig ineinander, und aus der komplexen Überlieferung findet nur das Beachtung, was geeignet ist, die moralisierende Interpretation zu stützen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ja, es gab Kritik an der „orgiastischen“ Aulosmusik in der Myronzeit, aber gerade die archäologischen Zeugnisse dokumentieren eindrucksvoll die außerordentliche Beliebtheit dieser Musik in eben dieser Zeit und sogar im Kult der Athena! Vom klassischen Athen ist es dann nur ein kleiner Schritt zum mutmaßlichen Gelagesaal in Ephesos, wo das aufwendige Relief die Aufgabe gehabt habe, die Anwesenden zur Mäßigung aufzurufen: „Trinken schadet Ihrer Gesundheit!“

Athena und Marsyas: Römische Kopien der Gruppe des Myron in Frankfurt und Rom/Vatikan
(Fotocollage: K. Junker/T. Petzel)


In einem längeren Aufsatz habe ich dargelegt, dass Athena und Marsyas in der mythischen Vorstellung tatsächlich Partner sind (Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 117, 2002; danach in weiteren Beiträgen, zuletzt 2012 in der Monographie Götter als Erfinder, zus. mit Sabrina Strohwald): die Göttin erfindet das Musizieren mit den Auloi („Doppelflöte“), verzichtet aber auf die Ausübung, die statt dessen von Marsyas übernommen wird, der zum Virtuosen auf dem Instrument und zum Vermittler dieser Kunst an die Menschen wird. Die neu identifizierte Darstellung in Ephesos liefert einen neuen Beleg für die Richtigkeit dieser – nicht nur für die griechische Welt zutreffenden – Interpretation von Mythos und bildlichen Wiedergaben. Die ersten Bearbeiter des Reliefs in Ephesos sind, methodologisch zweifellos richtig, von den sekundären Figuren ausgegangen, die den Vorzug haben, sicher identifizierbar und dazu in ihrem Sinngehalt unstrittig zu sein: Die beiden Eroten stellen eine harmonisierende Klammer für die zwei Hauptfiguren dar. Ein Liebespaar sind diese beiden in der Tat nicht, aber sie kooperieren: Sie machen auf der Ebene des Mythos verständlich, wie die Kunst des Aulosspiels von den Göttern zu den Menschen gekommen ist. Das Lob der göttlichen Erfinderin verbindet sich mit der Feier dionysischer Sinnlichkeit. Der Standort in Ephesos scheint denkbar passend dafür. Doch sie sitzt noch tief, die alte humanistische Vorstellung, griechische Kunst habe wesentlich dazu gedient, zum rechten Verhalten und vor allem zum Maßhalten aufzurufen. Sowohl in Athen als auch, einige hundert Jahre später, bei den sicher nicht minder drogenmündigen Ephesiern hätte man solche Appelle wohl lächerlich gefunden.