Donnerstag, 2. März 2017

Klassisch-archäologische Sozialforschung: Wohin geht die Entwicklung?


Als sich in meiner Studienzeit in den achtziger Jahren so etwas wie eine sozialgeschichtliche Wende in der Klassische Archäologie zu vollziehen schien und das nicht nur an Publikationen, sondern auch an großen Ausstellungen wie „Kaiser Augustus und die verlorene Republik“ und für Studierende an den Themen der Lehrveranstaltungen abzulesen war, konnte man erwarten, dass das Fach seine große ‚positivistische‘ Vergangenheit nutzen und sich energisch in Richtung einer umfassenden Kulturwissenschaft wandeln würde. An meinem Institut wurde der erste Band des kostspieligen Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC) nur als Fotokopie beschafft, in der Erwartung, dass das Unternehmen ohnehin nicht zum Abschluss kommen werde. Nicht nur darin hat man sich getäuscht.
Im vergangenen Jahr habe ich das Buch von Mireille M. Lee zum Thema Body, Dress, and Identity in Ancient Greece (Cambridge 2015) gelesen und rezensiert. Da selbst (Mit-)Autor eines Buches über griechische Kleidung und seit vielen Jahren mit dem Gegenstand beschäftigt, habe ich den Band mit einiger Erwartung in die Hand genommen. Doch die Lektüre hat sich rasch als sehr zwiespältig erwiesen. Nicht dass es am Sachverstand und an der Gründlichkeit der Autorin Zweifel gegeben hätte; kritisch erscheint mir vielmehr, dass es über eben diese Gründlichkeit hinaus an dem
Krater, Athen, um 440 v. Chr. Würzburg, Martin von Wagner Museum. Foto: Museum (K. Öhrlein)
Titel nicht viel zu loben gibt. Was fehlt, ist zum einen eine klare Themenstellung; dass Kleidung ein Mittel zur Unterdrückung der Frau war oder jedenfalls sein konnte, ist mehrere Male zu lesen, doch wird keine konsistente Argumentation für diese starke Annahme geboten. Zum anderen habe ich fast jeden Sinn für die Sinnlichkeit griechischer Kleidung vermisst, was einem Verzicht auf eine zentrale Wirkungsdimension gleichkommt. Wie kann es sein, dass im Jahr 2015, nach mehr als einhundert Jahren Realienforschung auf diesem Feld, eine als Forschungsstudie präsentierte Arbeit noch eine so stark „enzyklopädische“ Ausrichtung hat?
Ein paar Monate später folgt die nächste Lektüre, die nächste Rezension – und es stellt sich dieselbe Erfahrung ein. Nun ist es ein deutscher Titel, wieder ein sozialgeschichtliches Thema, Viktoria Räuchles Dissertation über Die Mütter Athens und ihre Kinder. Verhaltens- und Gefühlsideale in klassischer Zeit (Berlin 2016). Handwerklich gibt es auch hier wenig auszusetzen, einzig der etwas unentschiedene Umgang mit dem wichtigen Aspekt des Realitätsgehalts ist methodologisch nicht überzeugend. Die Kritik ist grundlegender Natur. Hätte ich den Begriff nicht zuvor schon verwendet, hätte ich auch dieses Buch seinem Grundcharakter nach wieder als enzyklopädisch bezeichnen können oder müssen. Der Pragmatismus des Zugriffs der Autorin auf den Gegenstand kann nicht verschleiern, dass hier ein bestimmter Gegenstand – Grabreliefs und Vasenbilder mit Wiedergaben von (häufig nur mutmaßlichen) Müttern – zwar systematisch durchgegangen wird, die Darstellung sich aber kaum jemals zu einer wirklichen Fragestellung verdichtet. Zahlreiche Aussagen zu einzelnen Aspekten laufen zudem darauf hinaus, von der Seite der Bildenden Kunst nur zu bestätigen, was man zuvor schon aus der schriftlichen Überlieferung wusste.
Grabrelief für Ampharete. Athen, um 400 v.Chr. Athen, Kerameikosmuseum.
Foto: Giovanni Dall'Orto ©Wikimedia Commons
Auch wenn zwei Beispiele nicht ausreichen, um einen Trend zu konstatieren: Die Zahl der Arbeiten, die fleißig erschließen und systematisieren, die also, anders ausgedrückt, eher material- als problemorientiert sind, ist erstaunlich hoch. Für den Zustand des Faches ist das kein guter Befund. In der Festschrift für Helmut Ziegert hat Lambert Schneider 2006 ein sehr düsteres Bild der Fachentwicklung gemalt. Manches von seiner Wutrede ist überzogen und scheint allzu sehr von persönlicher Betroffenheit bestimmt zu sein. Die Kernaussagen haben sich jetzt, zehn Jahre später, wohl aber bestätigt. Was aber ist zu tun? Zwei Aspekte halte ich in diesem Zusammenhang für wesentlich.
Archäologische Studien zur Sozialgeschichte sollten, implizit oder explizit, eine anthropologische Perspektive verfolgen. Was das meint, ist am leichtesten vom Negativen her zu bestimmen: Sobald man eine Untersuchung als Beitrag nicht nur zum Verständnis eines Phänomens der griechisch-römischen Welt konzipiert, sondern als Beitrag zur allgemeinen Menschheitsgeschichte, erhält sie ihrem Impuls nach den Charakter einer anthropologischen Studie. Eine ausdrückliche Anknüpfung an aktuelle Debatten der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit stellt nicht eine Anbiederung an den Zeitgeist dar, sondern dient dazu, den Standort des eigenen Vorhabens zu skizzieren. Räuchle, wie der Fairness halber einzufügen ist, hat die Anknüpfung im Schlusskapitel ihrer Arbeit gesucht, wovon der Kernteil des Buches jedoch unberührt bleibt.
Die große Vergangenheit insbesondere der deutschen Klassischen Archäologie in der Erschließung und Einordnung der Funde hat als Folge eine mitunter ungute Werkergebenheit. Einen Gegenstand sehr gut zu kennen und präzise zu beschreiben, ist ohne Frage prinzipiell richtig und wertvoll, aber noch keine Voraussetzung für eine fruchtbare sozialgeschichtliche Untersuchung. Dafür braucht es noch anderes: Eine im Hinblick auf sozialgeschichtliche Fragen ausreichend breite und differenzierte Datenbasis (was für die Arbeit von Räuchle nicht zur Verfügung stand). Man braucht ferner einen Gegenstand, der nicht nur zu den Idealen und Konventionen einer Gesellschaft führt, sondern unter die Oberfläche führt, hin zu Brüchen und kontingenten Situationen, und der zudem die Aussagen der schriftlichen Quellen nicht nur bestätigt oder etwas modifiziert, sondern klar über die hinausführt oder ihnen widerspricht  – der Beitrag der Archäologie zur Diskussion über Päderastie und über weibliche Nacktheit im spätarchaischen und frühklassischen Athen scheint mir hier ein hervorragendes positives Beispiel zu sein.
Letztlich zeigt sich auch hier wie auf etlichen anderen Feldern, dass in der Klassischen Archäologie viele Arbeiten in einer humanistischen Welt hängengeblieben sind, die es nicht mehr gibt, oder, anders ausgedrückt, dass sie noch keinen Platz in einer posthumanistischen Wissenschaftswelt gefunden haben.