Montag, 9. Juni 2014

Nikolaus Himmelmann (1929–2013) und die Frage „Was bleibt?“


In den jetzt schon fernen Tagen um Weihnachten habe ich aus der Presse vom Tod von Nikolaus Himmelmann und von dem gleichsam galaktischen Absturz des Kunsthistorikers Horst Bredekamp erfahren. Bredekamp hatte, unterstützt von einem Forscherteam, die Handzeichnungen, die in einem 2005 bekannt gewordenen Exemplar von Galileis Schrift Sidereus Nuncius (1610) enthalten waren, für eigenhändige Zusätze des großen Gelehrten gehalten und ein Forschungsnetzwerk geschaffen, um die Analyse dieser Zeichnungen in großem Maßstab zu betreiben. 2012, fünf Jahre nach der ersten, vielbeachteten und ‑gelobten Publikation zum Thema, kamen – weit außerhalb der Forschergruppe – ernstzunehmende Zweifel an der Authentizität auf, die erst abgewehrt wurden und Sache weniger Experten blieben, seit Ende 2013 schließlich aber auch in Deutschland Gegenstand der öffentlichen Diskussion waren. Man hatte mit großem personellem und materiellem Aufwand einen Pseudo-Galilei des späteren 20. Jahrhunderts erforscht.

Himmelmann und Bredekamp verbindet einiges: Ideenreiche, produktive Gelehrte, die früh ihre eigenen intellektuellen Wege gingen und auch, als Zeichen der Anerkennung ihrer großen Leistung, früh im akademischen Betrieb etabliert waren. Interessanter ist, was die beiden Wissenschaftler trennt. Bredekamp (geb. 1947) entwickelte sich in Richtung Großforscher, der sein Fach neu zu definieren versucht, viele Preise erhält, auch im Ausland sehr präsent ist, umfangreiche Mittel einwirbt und bewegt. Er wird zum Prominenten weit über sein Fach hinaus; die Reaktionen der Kritiker reichen mitunter an Verehrung heran. Selbstkritik aufrechtzuerhalten ist in solcher Atmosphäre kein Leichtes.

Himmelmann war ein Prominenter für die Vertreter seines Faches – so auch für mich in den Studienjahren während der achtziger Jahre –, wohl aber nur wenig darüber hinaus, auch wenn er durchaus auch Aufgaben als „Wissenschaftsmanager“, wie man heute sagt, übernommen und bedeutende Ehrungen auch im Ausland erhalten hat. Aber der Habitus als Forscher blieb fast von den Anfängen bis zum Schluss seiner Tätigkeit im wesentlichen unverändert: Professor in Bonn, in 36 Jahren, wie berichtet wird, nie ein Vorlesungsthema wiederholt, also Semester für Semester als kontinuierlich Lernender ein neues Feld erschlossen, die zahlreichen Publikationen in ihrer äußeren Form stets äußerster Zweckhaftigkeit verpflichtet. Aufsatz reiht sich an Aufsatz, veröffentlicht in Fachzeitschriften oder, in langer Folge, als Akademieschriften. Selbst die in Buchform veröffentlichten, nie sehr umfangreichen Monographien behielten im Wesentlichen nach Themenstellung und Textduktus ihren Charakter als größere Ausätze. Ich weiß nicht, ob Himmelmann jemals einen Projektantrag geschrieben hat, vermutlich nicht. Einzig mit einer Ausstellung im Akademischen Kunstmuseum in Bonn 1989 ist er entschieden über den traditionellen Wirkungskreis des Fachwissenschaftlers hinausgetreten. Die bemerkenswerte Schau Herrscher und Athlet. Die Bronzen vom Quirinal und der dazu herausgebrachte Katalogband waren eine Unternehmung, die Spezialisten und interessierte Öffentlichkeit gleichermaßen ansprach.

Himmelmann blieb immer, wenn man diesen heiklen Ausdruck verwenden darf, reiner Wissenschaftler. Ein Erkenntnissucher, der sich ganz an dem traditionellen Ideal orientiert, die Resultate seiner Arbeit in konziser Form der – fachwissenschaftlichen – Öffentlichkeit mitzuteilen und sie damit ihrer potentiellen Wirkung zu überlassen. Er bewies seine Substanz durch das Erkennen von Fragestellungen, die exakte Beobachtung, die Vernetzung der archäologischen wie der schriftlichen Quellen zu einer dichten Argumentation und durch die Weite der Forschungsfelder, auf denen er Ergebnisse vorlegte. Den Lesern hat er es nicht immer leicht gemacht. Die Forscherpersönlichkeit hat sich auch darin ausgesprochen, dass ein persönlicher Zugriff auf das jeweilige Thema immer spürbar war, mit der Konsequenz, dass der gedanklichen Bahn für den, der nicht dieselben Voraussetzungen und Perspektiven mitbringt, mitunter schwer zu folgen war. So faszinierend die Schriften, so “dunkel“ erschien doch bisweilen die Art der Darstellung. Zu Himmelmanns sympathischer Eigenwilligkeit gehörte aber auch, dass er eine Art Blogger ante litteram war. Als Beitrag zur Vermittlung seiner Forschungen und der Themen seines Faches gegenüber einer größeren Öffentlichkeit publizierte er in späteren Jahren eine große Zahl von kleineren Beiträgen in der Presse, vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die später unter dem Titel Minima Archaeologica (1996) als Buch erschienen.

In seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom schreibt Helmut Kyrieleis, Himmelmann habe „als Forscher und als Lehrer die klassische Altertumswissenschaft wie kaum ein anderer seiner Generation vorangebracht.“ Ein großes Wort und eine schöne Vorstellung. Aber war Himmelmann mit der von ihm betriebenen Klassischen Archäologie am Ende nicht etwas aus der Zeit gefallen? Das eine Feld, auf dem er sich bewegte (und auf das er viele Schüler führte), war die Formanalyse, also die Beschreibung, Klassifizierung und historische Interpretation von Kunstwerken, das andere antike Religions-, Sozial- und Ideen­geschichte, und nicht selten verband sich das eine eng mit dem anderen. Sein Impuls war nach meinem Verständnis stark humanistisch: die griechische und die vielfältig griechisch geprägte römische Welt als eine Sphäre, mit der man sich auseinandersetzt, um auch als Mensch der Gegenwart zu lernen. Das ist, soweit ich weiß, nirgends explizit ausgesprochen, für den Leser aber spürbar in der Intensität der Auseinandersetzung mit den großen Leistungen schöpferischer Tätigkeit der klassischen Antike und mit den Impulsen, die dahinter stehen.

Attisch-geometrisches Gefäß, 8. Jh. v.Chr. (Privatbesitz):
Gegenständliches Ornament
Doch inzwischen befinden sich die Klassischen Altertumswissenschaften in ihrer posthumanistischen Phase. In seinen verschiedenen Schriften zum griechischen Porträt stellt Himmelmann nachdrücklich die Tatsache heraus, dass es sich um Bildnis-Weihungen, handelt, mithin um religiös motivierte Stiftungen, während in der Forschung seit langem die sozialgeschichtliche Auswertung dieser Denkmäler die Diskussion dominiert. Seine Interpretationen kreisen dagegen um den Begriff der sophrosyne, Besonnenheit, überlegte, gottgefällige Lebensführung. Eine meiner Lieblingsschriften des Autors hat den denkbar nüchtern-deskriptiven Titel Über einige gegenständliche Bedeutungsmöglichkeiten des frühgriechischen Ornaments (1968). Es ist eine Art wahrnehmungspsychologische Studie, die gut begründet darlegt, dass manche scheinbar rein ornamentalen Gestaltungen tatsächlich benennbare Objekte der Erfahrungswelt angeben und die auf diese Weise gleichsam die Weltsicht der Menschen im 8. Jahrhundert v.Chr. partiell erschließt. Dass Himmelmann den Gegenstand in erweiterter Form bald vierzig Jahre später noch einmal behandelt (Grundlagen der griechischen Pflanzendarstellung, 2005), ist legitim, zugleich aber symptomatisch für die Ambivalenz seines Nachruhms.

Der Text aus dem Jahr 1968 ist heute so modern, wie er es bei Erscheinen vor mehr als vierzig Jahren war – oder ist es wieder. Denn der Ansatz, über die genaue, ‚qualitative‘ Betrachtung der Form, und zwar gerade auch der kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen, nicht nur Klassifizierungen und eine historische Kontextualisierung vorzunehmen, sondern auch etwas vom Geist und von den Leidenschaften der Epoche zu erfassen, und der Idealismus und die gesamte Perspektive eines Nikolaus Himmelmann sind wohl gerade den vielen jüngeren Archäologen und Studierenden leider fremd geworden. Vielleicht liegt es in der Natur einer idealistischen Haltung, dass der davon geleitete Wissenschaftler seine Wirkung in erster Linie in seiner Zeit und im direkten Bezug zu Lesern und Hörern entfaltet.