Es
beginnt mit der Sprache, natürlich. „Digitale Lehre“ wird als Gegenbegriff
gesetzt für das was zuvor – man kann sagen: für Jahrhunderte – die
selbstverständliche Form von universitärem Unterricht war, Präsenz, direkter
Austausch, sprachlich und visuell. Doch das Gegenstück zur Präsenzlehre ist
natürlich nicht die digitale Lehre, sondern der Fern- oder Teleunterricht oder,
wenn man es ganz genau und also wieder lateinisch ausdrücken wollte, die
Absenzlehre. Fernunterricht hört sich wenig attraktiv an, digitale Lehre
dagegen klingt modern. Dabei nutzen wir an den Universitäten digitale Medien
schon seit fünfzehn Jahren in großem Umfang, Powerpoint, Beamer, online
abrufbare Präsentationen sind lange eine Selbstverständlichkeit. Es ist ein
simpler Fall von Framing, das Unterrichten auf Distanz durch die Begriffswahl
als „zeitgemäß“ und innovativ zu markieren und so den Verlust durch die direkte
Ansprache zu verschleiern.
Wenn
man die Diskussion verfolgt, die in den Feuilletons der Zeitungen und in den
sozialen Medien geführt wird, die Stellungnahmen der Hochschulleitungen liest
und die Positionen zusammennimmt, die im direkten Gespräch geäußert werden,
entsteht der Eindruck einer völlig zerfaserten Debatte. Argumente pro und
contra rasche Rückkehr zur Präsenzlehre, vollständig oder partiell, liegen auf
so unterschiedlichen Ebenen, dass eine Abwägung und ein konsensfähiges Ergebnis
unmöglich zu sein scheinen. Dabei hört man nur wenige Stimmen von denen, für die
der Fernunterricht gemacht wird, die Studenten. Meine Seminargruppe, mit 13
Personen vielleicht schon ein wenig repräsentativ, habe ich im Anschluss an
eine reguläre Skype-Sitzung – mit Referat und wie immer sehr gehemmter
Diskussion – nach ihren Erfahrungen befragt, zunächst ohne von meiner Seite
einen Satz zum Thema zu sagen. Der Tenor war eindeutig: Vorlesungen per
Aufzeichnungen seien eine gute Sache, weil man sich den Stoff so zu
selbstgewählter Zeit und in selbstbestimmtem Tempo, dazu auch wiederholt,
aneignen kann, bei Seminaren gab es dagegen fast unisono Ablehnung: künstliche
Situation, reduzierter intellektueller Austausch, dazu der fast völlige Verlust
der sozialen Dimension des Unilebens. Das konnte ich von meiner Seite nur
bestätigen. Fast unvermeidlich bekamen wir dann auch das zu hören, was ich
vermeiden wollte, sehr kritische Berichte aus anderen Fächern, wo „digital“ im
Einzelfall heißt, das Vorlesungsskript stückweise ins Netz zu stellen, und
dann: arrivederci bei der Klausur!
![]() |
Einer der Innenhöfe des
geschlossenen Philosophicums auf dem Campus der
Johannes Gutenberg-Universität (JGU) wächst zu (Fotos: K. Junker)
|
Von
meinen Erfahrungen möchte ich eine als positiv herausheben. Die ‚Präsenz‘ bei
den online abgehaltenen Seminarsitzungen war höher als im regulären Unterricht.
Von den Teilnehmern hat fast nie jemand gefehlt, als ob die Schließung der
Universität und der Wegfall des mitunter langen Wegs dorthin zu dem Impuls
geführt hätten, sich dann jedenfalls an den Computer zu setzen, wenn es eine
Möglichkeit der Verbindung mit den Lehrenden gibt. Auch ist kein einziges
Referat ausgefallen, es gab noch nicht einmal eine Bitte um Verschiebung – das
habe ich schon mehrere Jahre nicht mehr erlebt. Die virtuelle Verbindlichkeit
scheint, jedenfalls in diesem ersten Semester neuer Art, höher zu sein als die
im direkten Umgang von Mensch zu Mensch. Versteckt sich hier schon ein Punkt,
der außerhalb des offiziellen Diskurses liegt: Kämpft mancher Student und
manche Studentin sonst mit der Vortragssituation, die nun in sichere Distanz
verlegt ist?
Ich
war dankbar, als sich Georg Krausch, Präsident meiner Universität, der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz, in der FAZ vom 27.6.2020 mit der Aussage verlauten
ließ, „Die bare Wissensvermittlung mag digital noch recht gut funktionieren,
aber für komplexe wissenschaftliche Sachverhalte müsse man reden und zuhören.
Im direkten Austausch sei eine ganz andere Tiefe der Auseinandersetzung
möglich“. Was er sagt, ist eine Selbstverständlichkeit, möchte man meinen, von
jedem erlebt, der Unterrichtssituationen kennt und dort etwas vermitteln
möchte. Und doch gibt es viele lobende Worte über den Fernunterricht, darüber,
„wie gut alles funktioniert“ und dass man sich den Möglichkeiten stellen solle
etc. Die wahren Gründe werden nach meiner Überzeugung nur unvollständig
ausgesprochen und deshalb ist vieles, was über die „digitale Lehre“ gesagt,
Teil einer Gespensterdebatte.
Da
sind zunächst die Freunde des Digitalen. Ihre Leidenschaft gibt sich noch
relativ offen zu erkennen und sie kann in der Öffentlichkeit mit einem relativ
hohen Maß an allgemeiner Zustimmung rechnen, gerade bei den Hochschulleitungen,
weil das Stichwort ohnehin präsent ist und weil, wie anfangs angesprochen, es pauschal für Fortschritt steht. Man denke an die „Digitalisierung“ der Schule bis in die
Grundschule hinab, die von keinem pädagogischen Einwand gestoppt wird. Die
Freunde des Digitalen, keine Frage, können hoffen, als Gewinner aus der Coronakrise in der
Hochschullandschaft hervorzugehen.
Kaum
noch offen gesprochen wird über einen anderen, einen psychosozialen Impuls,
ehrliche Angst sowie, wohl eng damit verbunden, eine konformistische Haltung
gegenüber den Verordnungen der Landesregierungen. Ich respektiere die Angst des
Einzelnen, aber ich möchte mein Tun nicht von seinen Regungen bestimmen lassen.
Fast schon Ergebenheit gegenüber den Autoritäten tritt hervor, wenn sich
Wissenschaftler in den sozialen Medien mit Maske vor dem Gesicht zeigen: Sollen
sie die Regeln beachten, wie sie es für richtig halten und was im Übrigen fast jeder in
vergleichbarer Weise handhabt; aber warum der Menschheit mitteilen, dass man
brav das tut, was die aktuellen Regularien verlangen?!
![]() |
Hier darf wieder gearbeitet, wenn
auch nicht unterrichtet werden:
Georg Forster-Gebäude auf dem Campus der JGU
|
Fast
ganz im Bereich des Unaussprechlichen ist man mit einem letzten Impuls,
Bequemlichkeit. Im informellen Kreis meiner Seminarrunde wurde kein Hehl daraus
gemacht: sich zweimal eine Stunde Weg zur Uni sparen, ist für den einen oder
die andere ein starkes Argument für den Fernunterricht. Bei den Lehrenden kann
es nicht anders sein. Die bittere Forderung nach „Flexibilität“ verliert
plötzlich viel von ihrem Schrecken – vielleicht hätte auch ich in der Zeit, als
ich zwischen Mainz und Berlin pendeln musste, den Qualitätsverlust in der Lehre
als das kleinere Übel gegenüber dem Freiheitsgewinn im Privaten abgewogen. Dass
die Leidenschaft für die Lehre, für die Live-Situation mit den Studenten,
unterschiedlich ausgeprägt ist, auch wenn niemand das quantifizieren kann,
steht ebenfalls außer Frage.