In den jetzt schon fernen Tagen um
Weihnachten habe ich aus der Presse vom Tod von Nikolaus Himmelmann und von dem
gleichsam galaktischen Absturz des Kunsthistorikers Horst Bredekamp erfahren.
Bredekamp hatte, unterstützt von einem Forscherteam, die Handzeichnungen, die
in einem 2005 bekannt gewordenen Exemplar von Galileis Schrift Sidereus Nuncius
(1610) enthalten waren, für eigenhändige Zusätze des großen Gelehrten gehalten
und ein Forschungsnetzwerk geschaffen, um die Analyse dieser Zeichnungen in
großem Maßstab zu betreiben. 2012, fünf Jahre nach der ersten, vielbeachteten und
‑gelobten Publikation zum Thema, kamen – weit außerhalb der Forschergruppe –
ernstzunehmende Zweifel an der Authentizität auf, die erst abgewehrt wurden und
Sache weniger Experten blieben, seit Ende 2013 schließlich aber auch in
Deutschland Gegenstand der öffentlichen Diskussion waren. Man hatte mit großem
personellem und materiellem Aufwand einen Pseudo-Galilei des späteren
20. Jahrhunderts erforscht.
Himmelmann und Bredekamp verbindet einiges: Ideenreiche,
produktive Gelehrte, die früh ihre eigenen intellektuellen Wege gingen und auch,
als Zeichen der Anerkennung ihrer großen Leistung, früh im akademischen Betrieb
etabliert waren. Interessanter ist, was die beiden Wissenschaftler trennt. Bredekamp
(geb. 1947) entwickelte sich in Richtung Großforscher, der sein Fach neu zu
definieren versucht, viele Preise erhält, auch im Ausland sehr präsent ist,
umfangreiche Mittel einwirbt und bewegt. Er wird zum Prominenten weit über sein
Fach hinaus; die Reaktionen der Kritiker reichen mitunter an Verehrung heran. Selbstkritik
aufrechtzuerhalten ist in solcher Atmosphäre kein Leichtes.
Himmelmann war ein Prominenter für die Vertreter seines
Faches – so auch für mich in den Studienjahren während der achtziger Jahre –,
wohl aber nur wenig darüber hinaus, auch wenn er durchaus auch Aufgaben als
„Wissenschaftsmanager“, wie man heute sagt, übernommen und bedeutende Ehrungen
auch im Ausland erhalten hat. Aber der Habitus als Forscher blieb fast von den
Anfängen bis zum Schluss seiner Tätigkeit im wesentlichen unverändert:
Professor in Bonn, in 36 Jahren, wie berichtet wird, nie ein Vorlesungsthema
wiederholt, also Semester für Semester als kontinuierlich Lernender ein neues
Feld erschlossen, die zahlreichen Publikationen in ihrer äußeren Form stets
äußerster Zweckhaftigkeit verpflichtet. Aufsatz reiht sich an Aufsatz,
veröffentlicht in Fachzeitschriften oder, in langer Folge, als
Akademieschriften. Selbst die in Buchform veröffentlichten, nie sehr
umfangreichen Monographien behielten im Wesentlichen nach Themenstellung und
Textduktus ihren Charakter als größere Ausätze. Ich weiß nicht, ob Himmelmann
jemals einen Projektantrag geschrieben hat, vermutlich nicht. Einzig mit einer
Ausstellung im Akademischen Kunstmuseum in Bonn 1989 ist er entschieden über
den traditionellen Wirkungskreis des Fachwissenschaftlers hinausgetreten. Die bemerkenswerte
Schau Herrscher und Athlet. Die Bronzen vom
Quirinal und der dazu herausgebrachte Katalogband waren eine Unternehmung,
die Spezialisten und interessierte Öffentlichkeit gleichermaßen ansprach.
Himmelmann blieb immer, wenn man diesen heiklen Ausdruck
verwenden darf, reiner Wissenschaftler. Ein Erkenntnissucher, der sich ganz an
dem traditionellen Ideal orientiert, die Resultate seiner Arbeit in konziser
Form der – fachwissenschaftlichen – Öffentlichkeit mitzuteilen und sie damit ihrer
potentiellen Wirkung zu überlassen. Er bewies seine Substanz durch das Erkennen
von Fragestellungen, die exakte Beobachtung, die Vernetzung der archäologischen
wie der schriftlichen Quellen zu einer dichten Argumentation und durch die
Weite der Forschungsfelder, auf denen er Ergebnisse vorlegte. Den Lesern hat er
es nicht immer leicht gemacht. Die Forscherpersönlichkeit hat sich auch darin
ausgesprochen, dass ein persönlicher Zugriff auf das jeweilige Thema immer
spürbar war, mit der Konsequenz, dass der gedanklichen Bahn für den, der nicht
dieselben Voraussetzungen und Perspektiven mitbringt, mitunter schwer zu folgen
war. So faszinierend die Schriften, so “dunkel“ erschien doch bisweilen die Art
der Darstellung. Zu Himmelmanns sympathischer Eigenwilligkeit gehörte aber
auch, dass er eine Art Blogger ante
litteram war. Als Beitrag zur Vermittlung seiner Forschungen und der Themen
seines Faches gegenüber einer größeren Öffentlichkeit publizierte er in
späteren Jahren eine große Zahl von kleineren Beiträgen in der Presse, vor
allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die später unter dem Titel Minima Archaeologica (1996) als Buch
erschienen.
In seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
vom schreibt Helmut Kyrieleis, Himmelmann habe „als Forscher und als Lehrer die
klassische Altertumswissenschaft wie kaum ein anderer seiner Generation
vorangebracht.“ Ein großes Wort und eine schöne Vorstellung. Aber war
Himmelmann mit der von ihm betriebenen Klassischen Archäologie am Ende nicht
etwas aus der Zeit gefallen? Das eine Feld, auf dem er sich bewegte (und auf
das er viele Schüler führte), war die Formanalyse, also die Beschreibung,
Klassifizierung und historische Interpretation von Kunstwerken, das andere
antike Religions-, Sozial- und Ideengeschichte, und nicht selten verband sich
das eine eng mit dem anderen. Sein Impuls war nach meinem Verständnis stark
humanistisch: die griechische und die vielfältig griechisch geprägte römische
Welt als eine Sphäre, mit der man sich auseinandersetzt, um auch als Mensch der
Gegenwart zu lernen. Das ist, soweit ich weiß, nirgends explizit ausgesprochen,
für den Leser aber spürbar in der Intensität der Auseinandersetzung mit den großen
Leistungen schöpferischer Tätigkeit der klassischen Antike und mit den
Impulsen, die dahinter stehen.
![]() |
Attisch-geometrisches Gefäß, 8. Jh. v.Chr. (Privatbesitz):
Gegenständliches Ornament |
Doch inzwischen befinden sich die Klassischen
Altertumswissenschaften in ihrer posthumanistischen Phase. In seinen
verschiedenen Schriften zum griechischen Porträt stellt Himmelmann
nachdrücklich die Tatsache heraus, dass es sich um Bildnis-Weihungen, handelt,
mithin um religiös motivierte Stiftungen, während in der Forschung seit langem die
sozialgeschichtliche Auswertung dieser Denkmäler die Diskussion dominiert.
Seine Interpretationen kreisen dagegen um den Begriff der sophrosyne, Besonnenheit, überlegte, gottgefällige Lebensführung. Eine
meiner Lieblingsschriften des Autors hat den denkbar nüchtern-deskriptiven
Titel Über einige gegenständliche
Bedeutungsmöglichkeiten des frühgriechischen Ornaments (1968). Es ist eine
Art wahrnehmungspsychologische Studie, die gut begründet darlegt, dass manche
scheinbar rein ornamentalen Gestaltungen tatsächlich benennbare Objekte der
Erfahrungswelt angeben und die auf diese Weise gleichsam die Weltsicht der
Menschen im 8. Jahrhundert v.Chr. partiell erschließt. Dass Himmelmann den
Gegenstand in erweiterter Form bald vierzig Jahre später noch einmal behandelt
(Grundlagen der griechischen
Pflanzendarstellung, 2005), ist legitim, zugleich aber symptomatisch für
die Ambivalenz seines Nachruhms.
Der Text aus dem Jahr 1968 ist heute so modern, wie er es
bei Erscheinen vor mehr als vierzig Jahren war – oder ist es wieder. Denn der
Ansatz, über die genaue, ‚qualitative‘ Betrachtung der Form, und zwar gerade
auch der kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen, nicht nur Klassifizierungen
und eine historische Kontextualisierung vorzunehmen, sondern auch etwas vom
Geist und von den Leidenschaften der Epoche zu erfassen, und der Idealismus und
die gesamte Perspektive eines Nikolaus Himmelmann sind wohl gerade den vielen jüngeren
Archäologen und Studierenden leider fremd geworden. Vielleicht liegt es in der
Natur einer idealistischen Haltung, dass der davon geleitete Wissenschaftler
seine Wirkung in erster Linie in seiner Zeit und im direkten Bezug zu Lesern
und Hörern entfaltet.