Im letzten Band des Archäologischen
Anzeigers hat sich Volker Michael Strocka mit einem großen Stuckrelief in
Ephesos beschäftigt (Band 2013/1, S. 85-94). Das wohl im späteren
2. Jahrhundert n.Chr. entstandene, 1973 bekannt gewordene Werk befindet
sich an der Stirnwand der sog. Basilica privata von Hanghaus 2. Die Funktion
des Raumes kann nur erschlossen werden; vermutlich diente er für Gelage und
andere festliche Zusammenkünfte.
Das Relief ist
stark beschädigt, doch lassen sich die Umrisse der vier Figuren noch gut
ablesen. Außen befinden sich zwei Eroten, in der Mitte eine männliche und eine
weibliche Figur. Aufgrund der Eroten wurden die beiden Protagonisten bisher als
Liebespaar identifiziert, ohne dass sich die konkreten Benennungen überzeugend
auf motivische Details stützen konnten. Strocka hat nun das, was zu erkennen
ist, genauer angesehen und erkannt, dass Athena und Marsyas dargestellt sind,
in einer freien Adaptation der hochklassischen Skulpturengruppe des Myron auf
der Athener Akropolis. Eine glänzende Beobachtung und damit eine wichtige
Erweiterung unserer Kenntnis der römischen Rezeption des klassischen Werks!
Ephesos, Hanghaus 2, sog. Basilica privata, Stuckrelief mit Athena und Marsyas (Foto: E. Rathmayr) |
Sehr befremdlich
sind dagegen die dann folgenden Bemerkungen zur Interpretation von Relief und
Mythos. Das beginnt mit den Angaben zur einzigen Passage in der antiken
Literatur, die sich mit der myronischen Gruppe befasst. Für diesen
entscheidenden Satz des Augenzeugen Pausanias (1,24,1) legt Strocka eine neue
Übersetzung vor. Athena „schlägt“ (paio)
Marsyas, so wurde die Aussage des Pausanias immer übersetzt. Strocka dagegen
liest „Athena stößt den Marsyas weg“, ohne Belege dafür anzugeben und ohne auf
die Positionen der vor mehr als hundert Jahren begonnenen Diskussion zu diesem
Satz Bezug zu nehmen. Wie beliebig dies ist, macht Strocka selbst deutlich,
wenn er in einer Anmerkung einen weiteren Übersetzungsvorschlag macht („Athena
stößt die Auloi weg“), die eine andere Auffassung der mythischen Handlung und
eine andere Rekonstruktion der Skulpturengruppe verlangen würde.
Strocka hängt
ausdrücklich der alten moralisierenden Vorstellung an: die hehre Göttin Athena
würde – gleichsam als personifizierte Sittenstrenge – gegenüber Marsyas eine
abwehrende Geste machen, um Distanz und Abscheu gegenüber dem Satyrn und der
von ihm ausgeübten wilden Aulosmusik zum Ausdruck zu bringen. Eine der
römischen Kopien der Athena des Myron widerspricht dieser Rekonstruktion
(Replik Lancellotti). Die Statue wird kurzerhand als Umbildung eingestuft,
damit sie sich Strockas Verständnis der Gruppe fügt. Dass ein Forscher, der
seine Dissertation über ein Thema aus dem Bereich der Kopienkritik, der Analyse
römischer Kopien zur Wiedergewinnung griechischer Originale, geschrieben hat,
dieses Forschungsfeld durch ein solches Vorgehen de facto der Lächerlichkeit
preis gibt, ist bemerkenswert.
Schließlich die
Frage nach dem Sinngehalt, der hochklassischen Statuengruppe wie dann auch des
Reliefs in Ephesos. Im Text von Strocka verfließen der kulturelle Kontext des
einen und des anderen Werks völlig ineinander, und aus der komplexen
Überlieferung findet nur das Beachtung, was geeignet ist, die moralisierende
Interpretation zu stützen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ja, es gab Kritik an
der „orgiastischen“ Aulosmusik in der Myronzeit, aber gerade die
archäologischen Zeugnisse dokumentieren eindrucksvoll die außerordentliche
Beliebtheit dieser Musik in eben dieser Zeit und sogar im Kult der Athena! Vom
klassischen Athen ist es dann nur ein kleiner Schritt zum mutmaßlichen Gelagesaal
in Ephesos, wo das aufwendige Relief die Aufgabe gehabt habe, die Anwesenden
zur Mäßigung aufzurufen: „Trinken schadet Ihrer Gesundheit!“
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Athena und Marsyas:
Römische Kopien der Gruppe des Myron in Frankfurt und Rom/Vatikan (Fotocollage: K. Junker/T. Petzel) |
In einem längeren
Aufsatz habe ich dargelegt, dass Athena und Marsyas in der mythischen
Vorstellung tatsächlich Partner sind (Jahrbuch des Deutschen Archäologischen
Instituts 117, 2002; danach in weiteren Beiträgen, zuletzt 2012 in der
Monographie Götter als Erfinder, zus.
mit Sabrina Strohwald): die Göttin erfindet das Musizieren mit den Auloi
(„Doppelflöte“), verzichtet aber auf die Ausübung, die statt dessen von Marsyas
übernommen wird, der zum Virtuosen auf dem Instrument und zum Vermittler dieser
Kunst an die Menschen wird. Die neu identifizierte Darstellung in Ephesos
liefert einen neuen Beleg für die Richtigkeit dieser – nicht nur für die
griechische Welt zutreffenden – Interpretation von Mythos und bildlichen
Wiedergaben. Die ersten Bearbeiter des Reliefs in Ephesos sind, methodologisch
zweifellos richtig, von den sekundären Figuren ausgegangen, die den Vorzug
haben, sicher identifizierbar und dazu in ihrem Sinngehalt unstrittig zu sein:
Die beiden Eroten stellen eine harmonisierende Klammer für die zwei
Hauptfiguren dar. Ein Liebespaar sind diese beiden in der Tat nicht, aber sie
kooperieren: Sie machen auf der Ebene des Mythos verständlich, wie die Kunst
des Aulosspiels von den Göttern zu den Menschen gekommen ist. Das Lob der
göttlichen Erfinderin verbindet sich mit der Feier dionysischer Sinnlichkeit.
Der Standort in Ephesos scheint denkbar passend dafür. Doch sie sitzt noch
tief, die alte humanistische Vorstellung, griechische Kunst habe wesentlich
dazu gedient, zum rechten Verhalten und vor allem zum Maßhalten aufzurufen.
Sowohl in Athen als auch, einige hundert Jahre später, bei den sicher nicht minder
drogenmündigen Ephesiern hätte man solche Appelle wohl lächerlich gefunden.