[tatsächlich veröffentlicht am 23.1.2020]
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Januar 2020 (Seite „Geisteswissenschaften“) hat der renommierte Kunsthistoriker Wolfgang Kemp einen Artikel über die Website academia.edu publiziert, der vom ersten bis zum letzten Satz von Ironie und Spott geleitet ist. Der Artikel bezieht sich explizit auf eine bestimmte Form von Publikationen, Papers „printed on own demand“. Gemeint sind damit Beiträge, die, salopp gesprochen, nur Aufgüsse von schon Bekanntem, gerne auch von selbst Geschriebenem sind, die also ohne eigene Datenerhebung und natürlich erst recht ohne eigene Gedanken auskämen: „Es geht um zur Gänze computergenerierte Forschung: recherchiert und geschrieben auf dem Rechner …“ Der Anteil solcher letztlich inhaltsloser Meta-Aufsätze – „das handelsübliche academia-Paper fällt ziemlich konform aus“ – ist in den Geisteswissenschaften wohl doch weniger groß, als Kemp suggeriert. Tatsächlich nennt er als Fach, das auf diesem unguten Feld besonders produktiv sei, die Sozialpsychologie. Um den Umfang dieser Scheinwissenschaft anzudeuten, schreibt Kemp, „man rechnet pro Jahr derzeit mit 1,8 Millionen Papers, davon grob überschlagen 400 000 in sogenannten Junk Journals publiziert“. Zu der erstgenannten Zahl, die sich offenbar auf den Bereich der Naturwissenschaften bezieht, kann man im Netz vage Nachweise finden. Und weiter: „Academia.edu ist für gewiefte Berufungskommissionen, was Instagram, was Whatsapp für den Personalchef sind, wenn er sich über die Bewerbungen auf eine Nachwuchsstelle beugt.“ Das schießt eindeutig über das Ziel hinaus. Einmal waren in Berufungskommissionen, wenn es um den wissenschaftlichen output ging, schon vor der Etablierung von Social Media mitunter Erbsenzähler am Werk. Zum anderen können auch Personalchefs, soweit sie nicht besondere Hackerqualitäten besitzen, die private Korrespondenz auf Whatsapp nicht mitlesen.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Januar 2020 (Seite „Geisteswissenschaften“) hat der renommierte Kunsthistoriker Wolfgang Kemp einen Artikel über die Website academia.edu publiziert, der vom ersten bis zum letzten Satz von Ironie und Spott geleitet ist. Der Artikel bezieht sich explizit auf eine bestimmte Form von Publikationen, Papers „printed on own demand“. Gemeint sind damit Beiträge, die, salopp gesprochen, nur Aufgüsse von schon Bekanntem, gerne auch von selbst Geschriebenem sind, die also ohne eigene Datenerhebung und natürlich erst recht ohne eigene Gedanken auskämen: „Es geht um zur Gänze computergenerierte Forschung: recherchiert und geschrieben auf dem Rechner …“ Der Anteil solcher letztlich inhaltsloser Meta-Aufsätze – „das handelsübliche academia-Paper fällt ziemlich konform aus“ – ist in den Geisteswissenschaften wohl doch weniger groß, als Kemp suggeriert. Tatsächlich nennt er als Fach, das auf diesem unguten Feld besonders produktiv sei, die Sozialpsychologie. Um den Umfang dieser Scheinwissenschaft anzudeuten, schreibt Kemp, „man rechnet pro Jahr derzeit mit 1,8 Millionen Papers, davon grob überschlagen 400 000 in sogenannten Junk Journals publiziert“. Zu der erstgenannten Zahl, die sich offenbar auf den Bereich der Naturwissenschaften bezieht, kann man im Netz vage Nachweise finden. Und weiter: „Academia.edu ist für gewiefte Berufungskommissionen, was Instagram, was Whatsapp für den Personalchef sind, wenn er sich über die Bewerbungen auf eine Nachwuchsstelle beugt.“ Das schießt eindeutig über das Ziel hinaus. Einmal waren in Berufungskommissionen, wenn es um den wissenschaftlichen output ging, schon vor der Etablierung von Social Media mitunter Erbsenzähler am Werk. Zum anderen können auch Personalchefs, soweit sie nicht besondere Hackerqualitäten besitzen, die private Korrespondenz auf Whatsapp nicht mitlesen.
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Der Bamberger Reiter (Wikimedia Commons) |
Der
zweite Teil des Zeitungsartikels widmet sich einem einzelnen Aufsatz, nun aus
Kemps Fachgebiet, über die Interpretation des Bamberger Reiters. Der Name des Autors
(der „Person“) wird nicht genannt, doch funktioniert die Anonymisierung nach
dem Prinzip “For the sake of privacy let's call her Lisa S... No that's too
obvious, let's say L. Simpson”. Der schon vor einigen Jahren erschienene
Aufsatz von Assaf Pinkus ist so gut oder so schlecht wie viele Beiträge mit
vergleichbarem Ansatz: Der Reiter lasse unterschiedliche Assoziationen zu und
sei schon von den Zeitgenossen sehr unterschiedlich wahrgenommen worden. Um ein
„handelsübliches academia-Paper“ handelt es sich allerdings gerade nicht, denn
der Aufsatz ist in einer Zeitschrift mit double-blind
peer review erschienen. Am Ende muss man sich fragen, was der Impuls für
Kemps Philippika war. Wollte er seinem Ärger über Aufsätze ohne eine (nach
seinem Urteil) originäre Forschungsleistung freien Lauf lassen und hat, statt
eben das auszusprechen, die Plattform attackiert, die die Schaffung dieser Art
von Publikationen angeblich besonders fördert? Wie es der Zufall will, hat
Stefan Kühl (nomen est omen) in
derselben Ausgabe von „Geisteswissenschaften“ das Selbstverständliche
ausgesprochen: Jeder, der eine Weile in seinem Fach tätig ist, erkennt solche
Beiträge schnell und spart sich seine Zeit für substantiellere Lektüren.
Kritik,
die sich auf tatsächliche Eigenarten von academia.edu bezieht, ist immer wieder
geäußert worden, mit sich wiederholenden Argumenten (typischerweise ebenfalls „zur
Gänze computergeneriert“) und wohl ohne jemals nennenswert etwas zu bewirken. Keine
Frage: Die Betreiber der Website nerven mit den zahllosen E-Mails und sonstigen
Nachrichten, mit denen sie traffic
generieren und die Nutzer zur Bezahlversion locken wollen. Ersteres kann man
gewohnheitsmäßig rasch entsorgen, Letzteres erreicht mich als durchschnittlich
eitlen Wissenschaftler nicht: Wer im Einzelnen meine Beiträge liest, ist mir
gleich. Dass academia.edu privatwirtschaftlich betrieben wird und auch vom
Datensammeln lebt, kann man aus generellen Erwägungen heraus ablehnen. Auch ich
würde mir wünschen, dass die digitale Daseinsvorsorge von neutralen staatlichen
Stellen betrieben würde, Suchmaschine, Handelsplattform,
Datenverarbeitungsprogramme, Mitteilungendienste, und lese mit gemischten
Gefühlen, ob die Philanthropen Jeff Bezos oder Bill Gates auf der Forbes-Liste gerade
die Nase vorn haben. Auf ein Forschungsrepositorium wie academia.edu bezogen,
kann man fordern: Es „wird deutlich, wie wichtig es wäre, ein funktionierendes
Portal zu haben, das von der akademischen Welt selbst getragen wird und
vorrangig den Interessen der Wissenschaft und nicht denen des Datenhandels
dient. Solche Dinge müssen die wissenschaftliche Community und ihre
Forschungsförderungsorganisationen selbst erledigen“. RainerSchregs Ideal, letztlich ein hilfloser Ruf nach „dem Staat“, scheint heute in
ebenso weiter Ferne zu sein wie 2017 (weshalb Schreg auch heute unverändert auf
dem Portal aktiv ist), und der Grund ist wohl nicht nur, dass academia.edu
früher als andere am Markt war, sondern dass die Leute hinter dem Portal, so
bedauerlich man das finden mag, beweglicher und innovativer sind, als staatlich
finanzierte Akteure es je wären. Letzter Punkt ist die Besorgnis mancher
Beobachter, die Nutzer könnten einer Metrics
Mania verfallen und beim Verfertigen schlauer Gedanken von der Sucht nach
Klickzahlen korrumpiert werden. „We feel compelled to
feed our data doppelgänger just to keep up, baited by the relentless email
reminders”, sorgt sich Jefferson Pooley.
Abgesehen
davon, dass mich das vereinnahmende „Wir“ grundsätzlich stört, stimme ich
Pooley auch im Speziellen nicht zu. Da academia.edu nicht nur Aufrufe eines
Beitrags zählt, sondern auch die Downloads, hat man gleich zwei Parameter, die
etwas über das Interesse der community
an der eigenen Forschung sagen können. Auch wenn die Klickzahlen von manchen
Zufällen abhängen, insbesondere ohne Frage davon, wie prominent ein Beitrag bei
der konventionellen Google-Suche aufgeführt wird, behalten sie doch einen
gewissen Aussagewert: Das gilt erst recht für die Downloads, für die sich ein
Nutzer, nach mehr oder weniger intensiver Lektüre, immer explizit entscheidet.
Auffällig ist, sicher nicht nur für mich, in diesem Zahlenmaterial zweierlei.
Einmal ist das Verhältnis von Downloads zu Aufrufzahlen bei den einzelnen
Beiträgen sehr verschieden, so dass sich oberflächliches und ausgeprägtes Interesse
gut unterscheiden lassen. Und dann sehe ich deutlich, dass englischsprachige
Beiträge im Verhältnis insgesamt deutlich häufiger aufgerufen werden als in
deutscher Sprache verfasste.
So what?
mag man fragen. Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin will gelesen
werden und Anteil an der Debatte im eigenen Fach haben. Niemand, möchte ich
behaupten, forscht und schreibt nach dem Grundsatz, nur strikt den eigenen
Qualitätsmaßstäben genügen zu wollen. Academia kann, über den offenkundigen
Vorzug des Informationsaustauschs auf dem riesigen Portal hinaus, ein wenig
Orientierung über die Wirkung der eigenen Arbeiten geben. Die positiven und
negativen Überraschungen entsprechen am Ende dem, was man auch in der analogen
Welt erlebt.