Als sich
in meiner Studienzeit in den achtziger Jahren so etwas wie eine
sozialgeschichtliche Wende in der Klassische Archäologie zu vollziehen schien
und das nicht nur an Publikationen, sondern auch an großen Ausstellungen wie
„Kaiser Augustus und die verlorene Republik“ und für Studierende an den Themen
der Lehrveranstaltungen abzulesen war, konnte man erwarten, dass das Fach seine
große ‚positivistische‘ Vergangenheit nutzen und sich energisch in Richtung
einer umfassenden Kulturwissenschaft wandeln würde. An meinem Institut wurde
der erste Band des kostspieligen Lexicon
Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC) nur als Fotokopie beschafft, in
der Erwartung, dass das Unternehmen ohnehin nicht zum Abschluss kommen werde.
Nicht nur darin hat man sich getäuscht.
Im
vergangenen Jahr habe ich das Buch von Mireille M. Lee zum Thema Body, Dress, and Identity in Ancient Greece (Cambridge
2015) gelesen und rezensiert. Da selbst (Mit-)Autor eines Buches über
griechische Kleidung und seit vielen Jahren mit dem Gegenstand beschäftigt,
habe ich den Band mit einiger Erwartung in die Hand genommen. Doch die Lektüre
hat sich rasch als sehr zwiespältig erwiesen. Nicht dass es am Sachverstand und
an der Gründlichkeit der Autorin Zweifel gegeben hätte; kritisch erscheint mir
vielmehr, dass es über eben diese Gründlichkeit hinaus an dem
Krater,
Athen, um 440 v. Chr. Würzburg, Martin von Wagner Museum. Foto: Museum (K.
Öhrlein)
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Titel nicht viel
zu loben gibt. Was fehlt, ist zum einen eine klare Themenstellung; dass
Kleidung ein Mittel zur Unterdrückung der Frau war oder jedenfalls sein konnte,
ist mehrere Male zu lesen, doch wird keine konsistente Argumentation für diese
starke Annahme geboten. Zum anderen habe ich fast jeden Sinn für die
Sinnlichkeit griechischer Kleidung vermisst, was einem Verzicht auf eine
zentrale Wirkungsdimension gleichkommt. Wie kann es sein, dass im Jahr 2015,
nach mehr als einhundert Jahren Realienforschung auf diesem Feld, eine als
Forschungsstudie präsentierte Arbeit noch eine so stark „enzyklopädische“
Ausrichtung hat?
Ein
paar Monate später folgt die nächste Lektüre, die nächste Rezension – und es
stellt sich dieselbe Erfahrung ein. Nun ist es ein deutscher Titel, wieder ein
sozialgeschichtliches Thema, Viktoria Räuchles Dissertation über Die Mütter Athens und ihre Kinder.
Verhaltens- und Gefühlsideale in klassischer Zeit (Berlin 2016). Handwerklich
gibt es auch hier wenig auszusetzen, einzig der etwas unentschiedene Umgang mit
dem wichtigen Aspekt des Realitätsgehalts ist methodologisch nicht überzeugend.
Die Kritik ist grundlegender Natur. Hätte ich den Begriff nicht zuvor schon
verwendet, hätte ich auch dieses Buch seinem Grundcharakter nach wieder als
enzyklopädisch bezeichnen können oder müssen. Der Pragmatismus des Zugriffs der
Autorin auf den Gegenstand kann nicht verschleiern, dass hier ein bestimmter
Gegenstand – Grabreliefs und Vasenbilder mit Wiedergaben von (häufig nur
mutmaßlichen) Müttern – zwar systematisch durchgegangen wird, die Darstellung
sich aber kaum jemals zu einer wirklichen Fragestellung verdichtet. Zahlreiche
Aussagen zu einzelnen Aspekten laufen zudem darauf hinaus, von der Seite der Bildenden
Kunst nur zu bestätigen, was man zuvor schon aus der schriftlichen
Überlieferung wusste.
Grabrelief
für Ampharete. Athen, um 400 v.Chr. Athen, Kerameikosmuseum.
Foto: Giovanni
Dall'Orto ©Wikimedia Commons
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Auch
wenn zwei Beispiele nicht ausreichen, um einen Trend zu konstatieren: Die Zahl
der Arbeiten, die fleißig erschließen und systematisieren, die also, anders
ausgedrückt, eher material- als problemorientiert sind, ist erstaunlich hoch. Für
den Zustand des Faches ist das kein guter Befund. In der Festschrift für Helmut
Ziegert hat Lambert Schneider 2006 ein sehr düsteres Bild der Fachentwicklung
gemalt. Manches von seiner Wutrede ist überzogen und scheint allzu sehr von
persönlicher Betroffenheit bestimmt zu sein. Die Kernaussagen haben sich jetzt,
zehn Jahre später, wohl aber bestätigt. Was aber ist zu tun? Zwei Aspekte halte
ich in diesem Zusammenhang für wesentlich.
Archäologische
Studien zur Sozialgeschichte sollten, implizit oder explizit, eine
anthropologische Perspektive verfolgen. Was das meint, ist am leichtesten vom
Negativen her zu bestimmen: Sobald man eine Untersuchung als Beitrag nicht nur
zum Verständnis eines Phänomens der griechisch-römischen Welt konzipiert,
sondern als Beitrag zur allgemeinen Menschheitsgeschichte, erhält sie ihrem
Impuls nach den Charakter einer anthropologischen Studie. Eine ausdrückliche
Anknüpfung an aktuelle Debatten der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit
stellt nicht eine Anbiederung an den Zeitgeist dar, sondern dient dazu, den
Standort des eigenen Vorhabens zu skizzieren. Räuchle, wie der Fairness halber
einzufügen ist, hat die Anknüpfung im Schlusskapitel ihrer Arbeit gesucht,
wovon der Kernteil des Buches jedoch unberührt bleibt.
Die
große Vergangenheit insbesondere der deutschen Klassischen Archäologie in der
Erschließung und Einordnung der Funde hat als Folge eine mitunter ungute
Werkergebenheit. Einen Gegenstand sehr gut zu kennen und präzise zu
beschreiben, ist ohne Frage prinzipiell richtig und wertvoll, aber noch keine
Voraussetzung für eine fruchtbare sozialgeschichtliche Untersuchung. Dafür
braucht es noch anderes: Eine im Hinblick auf sozialgeschichtliche Fragen
ausreichend breite und differenzierte Datenbasis (was für die Arbeit von
Räuchle nicht zur Verfügung stand). Man braucht ferner einen Gegenstand, der
nicht nur zu den Idealen und Konventionen einer Gesellschaft führt, sondern
unter die Oberfläche führt, hin zu Brüchen und kontingenten Situationen, und
der zudem die Aussagen der schriftlichen Quellen nicht nur bestätigt oder etwas
modifiziert, sondern klar über die hinausführt oder ihnen widerspricht – der Beitrag der Archäologie zur Diskussion
über Päderastie und über weibliche Nacktheit im spätarchaischen und
frühklassischen Athen scheint mir hier ein hervorragendes positives Beispiel zu
sein.
Letztlich
zeigt sich auch hier wie auf etlichen anderen Feldern, dass in der Klassischen
Archäologie viele Arbeiten in einer humanistischen Welt hängengeblieben sind,
die es nicht mehr gibt, oder, anders ausgedrückt, dass sie noch keinen Platz in
einer posthumanistischen Wissenschaftswelt gefunden haben.