Das Wintersemester ist vorüber, ein Seminar
zur Polychromie abgeschlossen. Ich komme zu dieser Thematik von meinem
Forschungsinteresse an der archaischen Plastik her und hatte mich gefragt, was
die neueren Untersuchungen zur Farbfassung der Skulpturen für das Verständnis
der Statuen insgesamt erbracht haben. Das Forschungsfeld ist attraktiv und
dynamisch, keine Frage: Es sind in den letzten zwanzig Jahren an zahlreichen
Stücken die Farbreste erstmals dokumentiert und analysiert worden und es gibt
viele neue Beobachtungen an schon länger diskutierten Werken. Zudem hat die
seit 2003 in vielen Städten im In- und Ausland gezeigte Ausstellung „Bunte
Götter – Die Farbigkeit antiker Skulptur“, mit der Vinzenz Brinkmann und mit
ihm viele andere Forscher die Ergebnisse der Polychromieforschung anhand von kolorierten
Abgüssen für ein größeres Publikum anschaulich machen, der Klassischen
Archäologie als Disziplin Aufmerksamkeit verschafft. Aber gewinnt das Fach auch
substantiell durch diese Anstrengungen? Wie stark wirken die
Polychromieuntersuchungen in die etablierte Forschung hinein?
Die Popularisierung des Themas erfolgt mit
großem Nachdruck und sie scheut auch nicht immer vor Übertreibungen zurück.
„White Lies“ war eine Fassung der Ausstellung „Bunte Götter“ überschrieben, in
Anspielung auf den angeblich erbitterten Widerstand von Wissenschaft und
Öffentlichkeit, die Praxis der Kolorierung antiker Statuen zur Kenntnis zu
nehmen. Tatsächlich werden hier mit umstürzlerischem Eifer offene Türen
eingerannt. Über eine 2010 produzierte Dokumentation berichtet der Hessische
Rundfunk auf seiner Website: „Der Film räumt auf mit der Vorstellung, die
Antike sei marmorweiß gewesen – sie war kreischend bunt“, was freilich alle am
Thema Interessierten seit dem 19. Jahrhundert wissen. Angekündigt wird mit
dem Beitrag eine „schockfarbene Antike“, „verblüffende PopArt“, um dann
kulturkritisch mit der Frage fortzufahren, ob wir das wissen wollen „Oder
verletzt es die Gefühle, die bisherige Auffassung von abendländischer Kultur?“ Nein,
das Einzige, was hier verletzt, ist der enthemmte sprachliche Superlativismus.
Im Vergleich zu solchen
Sensationsankündigungen offenbart ein Blick in aktuelle wissenschaftliche
Publikationen ein anderes Bild. In
freudig-spöttischem Ton schreibt Olga Palagia: „The ghosts of painted patterns
on marble have been imaginatively recreated on plaster casts with the addition
of gaudy colours, which may or may not reflect the original pigments, but at
least introduce the modern viewer to a new conception of colourful statuary, as
opposed to the neo-classical ideal of white marble” (in: Greek sculpture,
Archaic, Classical & Hellenistic: new finds and developments 2005–2015,
Archaeological Reports, 61, 2015, 111). In der bemerkenswerten Sequenz von
englischsprachigen Handbüchern zur griechischen (oder antiken) Kunst (oder
Plastik) haben die Forschungen von Brinkmann und anderen nur einen schwachen
Niederschlag gefunden. Die Publikationen von Tyler Jo Smith und Dimitris
Damaskos (A companion to Greek art, 2012), Clemente Marconi (The Oxford
handbook of Greek and Roman art and architecture, 2015) und Judith M. Barringer
(The Art and Archaeology of Ancient Greece, 2015) gehen mit nicht mehr als ein
paar Zeilen auf das Thema ein. Einzig Nigel Spivey, Greek Sculpture (2013) hat
einen eigenen Abschnitt zur Statuenpolychromie, der die Forschungsgeschichte
von den Anfängen bis heute skizziert, aber auch auf den kleinen Seitenhieb
nicht verzichtet, manche modernen Nachschöpfungen seien „hideous to behold“
(83). Die Begleitpublikation zur Ausstellung „Archaic Colors“ in Athen (2012)
nimmt auf diskrete Weise eine reservierte Haltung ein: Es werden viele
Originalwerke mit ihren Farbresten abgebildet, aber keine einzige Rekonstruktion.
Der Grund für Skepsis und Misstrauen wird in vielen Fällen ein gleichsam
technischer Aspekt sein: Wer Skulpturen ‚nur‘ mit seinen Augen untersucht und
mit den traditionellen Methoden zu Ergebnissen kommt, der kann die Ergebnisse
der Polychromieforschung nicht überprüfen, sondern nur glauben. Abhängigkeit
der geisteswissenschaftlichen Arbeit von naturwissenschaftlichen Ergebnissen
gibt es zwar auch auf vielen anderen Feldern der Archäologie
(Metallzusammensetzung, Tierknochenanalyse u.v.m.). Hier aber ist ein
‚bildgebendes Verfahren‘ nicht nur ein Hilfsmittel der Erforschung, sondern das
Ergebnis der ästhetischen Analyse selbst.
Aber nicht nur der Blick von außen ist
gespalten, sondern auch die Einschätzungen der Akteure selbst. Die Arbeiten von
Brinkmann und seinem Team leben stark von der Simulation, vom Anspruch, das
originale Kolorit der (archaischen) Statuen möglichst authentisch
wiederzugewinnen. So heißt es in einer der letzten Ausgaben des Katalogs zur
Ausstellung „Bunte Götter“ zur Rekonstruktion von ursprünglichen Farbwerten:
„... die Abweichung zwischen dem originalen antiken Farbton und dem der modern
aufbereiteten Naturpigmente und Farbstoffe beträgt weniger als 4 nm, sie ist
mit dem menschlichen Auge nicht mehr wahrnehmbar“ (V. Brinkmann – U.
Koch-Brinkmann, Die Gewänder der Frauen, in: Bunte Götter. Katalog Wien 2012,
29). Häufiger aber sind die zurückhaltenden oder ausdrücklich skeptischen
Äußerungen. So schreibt J. S.
Østergaard: „The scholars responsible for the reconstructions and simulations
explicitly do not claim thus to restore the aesthetic quality and craftmanship
of the original“, und weiter zur archaischen Zeit im Besonderen: “we have a long
way to go before we will truly understand the polychromy of this epoch” (The
Polychromy of Antique Sculpture: A Challenge to Western Ideals?, in: V. Brinkmann
– O. Primavesi [Hrsg.], Circumlitio. The Polychromy of Antique and Medieval
Sculpture [München 2010] 87. 89).
In der großen Differenz zwischen den beiden
Aussagen wird etwas von der Problematik der aktuellen Polychromieforschung zur
archaischen Plastik spürbar. Es ist durchaus zweifelhaft, ob man sich über die
Popularität des Gegenstands freuen darf. Das – hier nur angedeutete –
sensationalistische Element in der Berichterstattung geht zusammen mit der bei
archäologischen Ausstellungen zu beobachtenden Tendenz, das Publikum mit
möglichst spektakulären Titeln anzulocken, was man, wenn es offenbar solcher
Lockmittel bedarf, wohl als Krisensymptom für das Fach als wissenschaftliche
Disziplin ansehen muss. Unglücklich ist auch ein weiterer Punkt. Auch wenn es
viele Stimmen gibt, die auf die unüberwindlichen Schwierigkeiten einer exakten
Rekonstruktion hinweisen, weil sich die Intensität des Farbauftrags nicht
präzise bestimmen lässt oder weil sich die Wirkung der Pigmente je nach
eingesetztem Bindemittel stark unterschieden haben kann, so lebt das
dreidimensionale Rekonstruieren, wie es in den Ausstellungen präsentiert wird,
doch ganz vom Anspruch des Authentischen. Kehrt man damit nicht auf neuen
Pfaden zu einer – in der Polychromieforschung gerne kritisierten –
klassizistischen Perspektive zurück, indem perfekte Nachahmung und unbedingte
Anschauung zum eigentlichen Ziel der wissenschaftlichen Arbeit werden?
Die
Diskussion über die Möglichkeiten und die Grenzen der Polychromieforschung zur
archaischen Plastik kommt an einem simplen Faktum nicht vorbei: Die
Überlieferung erlaubt zwar, eine umfassende und differenzierte Geschichte der
plastischen Form zu schreiben, für den Farbeinsatz ist dies aber nicht möglich
und wird es wohl nie möglich sein. Die Erfolge bei Einzelbefunden stehen in
einem ernüchternden Kontrast zu den engen Grenzen, die einer wirklichen Entwicklungsgeschichte
der Polychromie gesetzt sind. Aber welche neuen Möglichkeiten ergeben sich? Zu
fragen ist, inwiefern durch die erweiterte Kenntnis des Farbeinsatzes das
Verständnis der archaischen Plastik als ästhetisches Phänomen insgesamt
verbessert werden kann, oder, etwas eingegrenzter formuliert: Inwiefern ist
auch die plastische Form besser zu verstehen, wenn man die Praktiken des
Farbeinsatzes stärker berücksichtigt? Dabei ist vor allem an das Nebeneinander
von nicht-mimetischer Gesamtanlage der Figuren und realistischen Details zu
denken, das für die Analyse der archaischen Plastik schon immer eine besondere
Herausforderung dargestellt hat. Dazu abschließend zwei Beispiele, jeweils als
Frage formuliert.
Die Raffinesse der fein geschichteten Gewänder
der Cheramyes-Koren auf Samos (Abbildung oben) scheint darauf angelegt zu sein,
auf virtuose Weise den Eindruck von Dreidimensionalität zu erreichen. Aber wurde
auf eine deutliche plastische Absetzung der Flächen vielleicht deshalb bewusst verzichtet,
weil der Bildhauer bei der Konzeption seiner Arbeit die Möglichkeiten der
effektiven Differenzierung der Gewänder mittels des Farbeinsatzes einkalkuliert
hat?
Bei vielen Akropoliskoren weisen der obere
Chitonteil und der unter dem Mantel hervorkommende untere Teil so
unterschiedliche Oberflächengestaltungen auf, dass man auf die Idee verfallen
ist, die Figuren würden „Rock und Top“ tragen und nicht ein durchgehendes
Textilstück. Der Farbeinsatz scheint diese Annahme nicht selten noch zu
stützen, wenn der obere Teil anders gefasst ist als der untere. Tatsächlich
fordert der Befund dazu heraus, die Erwartungen
an Wiedergabetreue zu überprüfen: Prächtigkeit der Gesamtwirkung war das
Ziel, dem „Realismus“ der Darstellung in
dem einen Detail dienlich war, im anderen nicht. Und wenn bei der Gestaltung
der plastischen Form offenkundig viele „Fehler“ gegenüber der tatsächlichen
Erscheinung von Körper und Gewand akzeptiert worden sind, gilt das dann auch
für die Farbe, d.h. entsprechen die auf den Marmor aufgetragenen Farben denen
der aus dem Alltag vertrauten Textilien oder hat man auch hier auf Authentizität
im modernen Sinn keinen Wert gelegt und auf dem Stein das verwirklicht, was mit
den gegebenen Materialien (Marmor, Pigmente, Bindemittel) mit gutem Effekt zu
realisieren war?
Abbildungen
Farbrekonstruktion der Akropoliskore Nr. 675 (sog. Chioskore) von V.
Brinkmann und Team (Foto: http://www.stiftung-archaeologie.de/)
Farbrekonstruktion der Akropoliskore Nr. 682 von B. Schmaltz (Foto: B. Schmaltz, vgl.
Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 124, 2009, 75–134; vgl.
https://www.klassarch.uni-kiel.de/de/forschung/skulptur-relief/polychromie-archaischer-plastik)
Von Cheramyes in das Heraheiligtum von Samos gestiftete Kore, Samos,
Museum (Foto: Deutsches Archäologisches Institut, Athen, Neg. D-DAI-1985/479, R. Rehm )