Vor mehr als siebzig Jahren, 1939,
erschien der erste Band der Reihe Das
römische Herrscherbild. Die Serie steht in einer Tradition der deutschen
Klassischen Archäologie, die bis in das 19. Jahrhundert zurück reicht und
bis in die Gegenwart stark geblieben ist. Ziel solcher Corpuswerke ist es stets,
wichtige Denkmälergruppen in systematischer Form in Sprache und Bild zu
dokumentieren und zu klassifizieren und sie damit der Forschung für alle
denkbaren weiterführenden Fragen zur Verfügung zu stellen. Je nach Konzept der
einzelnen Reihe legen die Autoren der Bände auch selbst Interpretationen des
Gegenstands vor – wie dies auch für die Serie zu den Porträts römischer Kaiser
gilt. Die verschiedenen Corpuspublikationen mit ihrer strengen Systematik und
ihrer meist ausgezeichneten Bildausstattung haben, so eine gängige Vermutung,
wesentlichen Anteil daran, der deutschen Sprache in der internationalen
klassisch-archäologischen Forschung das Leben zu verlängern.
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Porträt
des Tiberius. Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek 623.
Nach Abguss Rom, Museo dell‘Ara Pacis
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Genau fünfzig Jahre nach dem ersten Band markiert die Vorlage der Porträts des Caligula von Dietrich Boschung mit erweiterten Ansprüchen an Dokumentation und Methode den Beginn neuen Kapitels. Nun werden möglichst alle erhaltenen Stücke von allen vier Seiten abgebildet, da für die Einordnung der einzelnen Köpfe Gestaltungseigenheiten auch auf den Seiten und der Rückseite von Bedeutungsein
können. Und es wird ein neuer Weg zur Annäherung an das ‚Urbild‘ einer Porträtschöpfung
eingeschlagen, indem unter den Repliken eines Typus jeweils eine „Kerngruppe“
isoliert wird, deren Mitglieder sich durch starke Übereinstimmungen
insbesondere der Haaranlage über der Stirn zusammenschließen. Diese Kerngruppe,
so die Annahme, steht dem Entwurf, den der Kaiser als sein offizielles Bildnis in
Umlauf bringen ließ, jeweils am nächsten. Zugleich ist die Kerngruppe der
Referenzpunkt, um die gestalterischen Abweichungen der übrigen Stücke zu
bestimmen und daraus Rückschlüsse über den Prozess der Verbreitung des
kaiserlichen Porträts von der Hauptstadt Rom in die mit der Vervielfältigung
beauftragten Werkstätten in Italien und im gesamten Reichsgebiet zu ziehen.
Vor
kurzem erschien nun der dritte Band in der neuen Ära der Publikationsreihe:
Dieter Hertel über die Bildnisse des Tiberius. Die drei Herausgeber haben dem
neuen Werk ein ungewöhnlich skeptisches Vorwort mitgegeben, das in auffälligem
Kontrast zu der Freude steht, die normalerweise mit der Vorlage einer viele
Jahre lang in Arbeit befindlichen Monographie verbunden ist. Technische
Probleme werden beklagt, „die Kommerzialisierung der Fotoabteilungen an den
meisten Museen“ treibe die Kosten in die Höhe, und rechtliche Hürden ergäben
sich durch „das immer kompliziertere und rigoroser gehandhabte
Copyright-Wesen“. Bedrohlicher aber hören sich die Bemerkungen über Widerstände
gegen das wissenschaftliche Konzept an: „Vermutlich wirkt auch das umständliche
und zeitraubende Verfahren einer Kopienrecensio abschreckend“ – gibt es heute
also keine Klassischen Archäologen mehr, die bereit sind, einige Jahre ihres
Lebens für eine im Kern dienende Aufgabe im Rahmen der Grundlagenforschung
aufzuwenden? Besonders aber irritiere prinzipielle, vor allem in der
anglo-amerikanischen Forschung geäußerte Kritik an der „typologischen Methode“.
Mit dieser Kritik an der auf akribischer Beobachtung beruhenden Methodik der
Unterscheidung verschiedener Porträttypen hat sich der Herausgeber Klaus
Fittschen schon früher auseinandergesetzt (in: B. C. Ewald – C. F. Norena
(Hrsg.), The Emperor and Rome. Space,
representation, and ritual (Cambridge 2010) 223-6) und den Kritikern
entgegengehalten, dass sie keine substantiellen Argumente und vor allem kein
alternatives Konzept für die Erschließung und Analyse römischer Kaiserporträts
besäßen.
Tatsächlich
ist der Wert der Kopienkritik, des Herzstücks der typologischen Methode,
unbestreitbar. Nur durch die sorgfältige vergleichende Betrachtung sämtlicher
relevanter Stücke – rundplastisch wie im Münzbild – ist es möglich, die
Unterscheidungen zu treffen, die den Ausgangspunkt für die ‚höheren Fragen‘ der
historischen Analyse darstellen: die Unterscheidung von Bildnissen von Kaisern
und von ‚Privatleuten‘, die stark an erstere angelehnt sind, die Unterscheidung
der verschiedenen Porträtschöpfungen eines Kaisers sowie die Unterscheidung von
Stücken, die dem Ausgangsentwurf nahestehen, und solchen, die sich weiter davon
entfernen.
Dass
die Kritik an der typologischen Methode und ihren evidenten Erfolgen bei der
Erforschung der römischen Kaiserporträts vage bleibt, hat seinen Grund wohl
darin, dass es gar nicht darum geht, ihre wissenschaftliche Solidität in
Zweifel zu ziehen, sondern dass Publikationen wie Die Bildnisse des Tiberius einen relativ hermetischen Charakter
haben. So sehr die Methodik auch nachvollziehbar dargestellt ist, mit
Lockenschemata zu allen irgendwie relevanten Köpfen, so offenkundig ist es doch
für die Benutzer solcher Werke, dass sie, wenn sie nicht sehr viel Zeit
aufwenden, nicht in der Lage sind, die Ergebnisse zu überprüfen. So gerät man schnell
in die Lage, dem Autor einfach glauben zu müssen, und befindet sich damit am
Rande der etablierten Grenzen wissenschaftlicher Tätigkeit. Es passt auch ins
Bild, wenn die sorgfältige Rezension des Bandes durch Frank Hildebrandt auf
nicht weniger als 19 Seiten Umfang kommt.
Anders
ausgedrückt: Die Leser sind mit einem eigentümlichen Paradoxon konfrontiert.
Die bis ins kleinste Detail reichende Untersuchung der formalen Gegebenheiten,
die zu den eben aufgezählten Unterscheidungen führt, nähert sich der naturwissenschaftlichen
Herangehensweise an. Denn wenn die Zahl der erhaltenen Köpfe ausreichend groß
ist, dann erlaubt die typologische Methode, den Prozess der Diffusion eines
künstlerischen Konzepts – des wohl jeweils vom Kaiser oder seiner nächsten Umgebung
autorisierten ‚Urbildes‘ einer Porträtschöpfung – von der Hauptstadt Rom bis
an die Grenzen des riesigen Territoriums zu beleuchten. Es wird ein fast
technischer Vorgang sichtbar, in dem man Gradationen der Abweichung vom
Ausgangsentwurf feststellen und, um es bewusst wieder sehr technisch auszudrücken,
Mechanismen der „römischen Kunstindustrie“ beschreiben kann.
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Lockenschema
des oben abgebildeten Kopfes.
Abbildung aus dem besprochenen Band
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Dieser
außerordentlichen Exaktheit in der Erfassung eines künstlerisch-technischen
Phänomens steht die beinahe unmögliche Anforderung gegenüber, die Ergebnisse zu
verifizieren oder, naturwissenschaftlich gesprochen, das Experiment
nachzuvollziehen. Unvermeidliches Resultat dieses Gegensatzes ist ein gewisses
Unbehagen: man kann die Ergebnisse der Porträtanalyse konstatieren, ihnen aber nicht
oder nur mit größtem Aufwand widersprechen und also mit dem Autor in einen
Dialog treten. Er und nur er ist, nach Jahren „zeitraubender“ Tätigkeit, Kenner
der Materie, (fast) alle anderen nehmen zur Kenntnis, was diese Tätigkeit
erbracht hat.
Eine
solche Crux ist nichts Ungewöhnliches in der Klassischen Archäologie. John D. Beazleys „Vermeisterung“ der attischen Vasenmalerei gehört, auch wenn der Gegenstand und
die Art der Darstellung durch den Autor sehr verschieden sind, in dieselbe
Kategorie: An der Richtigkeit des Verfahrens gibt es keine grundlegenden
Zweifel, woran auch Detailkritik an manchen Ergebnissen nichts ändert. Beazley
hat allerdings, nachdem er seine Methode in einigen frühen Schriften in
exemplarischer Form erläutert hatte, auf einen wissenschaftlichen Nachweis für
den größten Teil seiner Ergebnisse verzichtet und damit das Kennerschaftliche
seines Vorgehens offenkundig gemacht. Für seine Lebensleistung der
Klassifizierung der attischen Vasenmaler und ihrer Werkstätten gilt wesentlich
ausgeprägter noch als für Das römische
Herrscherbild, dass der Erfolg der Methode zugleich ihr großes Problem ist.
Wer sich nicht näher mit der Materie befasst, flüchtet sich in unreflektierte
Kritik am „Lockenzählen“ und dergleichen, wer sich näher damit befassen möchte,
wird schnell ein Unbehagen aufgrund der schweren Zugänglichkeit der Ergebnisse
verspüren. Zum Paradoxon gehört dann auch, dass die leider sehr in die
Defensive geratene Formanalyse, vor wenigen Jahrzehnten noch ein zentrales Feld
der Klassischen Archäologie, auf dem sie gegenüber den Nachbardisziplinen ihre
Stärke ausspielen kann, mit Arbeiten wie der zu den Bildnissen des Tiberius
nicht in der Lage sein wird, verlorenes Terrain wiederzugewinnen.